Foto eines als Neandertaler hergerichteten Mannes im Wald, er trägt lange, verfilzte braune Haare und Bart, einen Speer und Felle.
Evolution der Kleidung: Nach der groben Verwendung von unbearbeiteten Fellen brach für steinzeitliche Jäger und Sammlerinnen (und vice versa) die Zeit ausgefeilterer Designs an.
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Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass die Modepolizei einen Deutschen mit Socken und Sandalen ins Himmelreich lässt. Die Anfänge der Mode sind allerdings nicht in der Bibel zu suchen, sondern in der Steinzeit, wenn es nach dem australischen Archäologen Ian Gilligan geht. In einer neuen Studie im Fachjournal Science Advances erläutern er und sein Team die Hypothese: Das Nadelöhr stand am Beginn der Mode.

Zwar bleiben für Archäologinnen und Archäologen meist nur wenige Tausend Jahre alte Spuren von Kleidung übrig, weil das organische Material nicht für die Ewigkeit gedacht und gemacht war. Aber dass unsere Urahnen schon vor mehr als 100.000 Jahren Gewand trugen, gilt als erwiesen. Schon vor etwa 500.000 Jahren könnten sich Menschen mit einfacher Kleidung wie unbearbeiteten Fellen vor der unwirtlichen Umwelt geschützt haben. Nur so war es ihnen möglich, kältere Regionen und Kaltzeiten zu überstehen.

Die Grafik aus der Studie zeigt, auf welchen Kontinenten es für welchen Zeitraum der vergangenen 500.000 Jahre archäologische Hinweise auf Kleidung gibt. Die Grafik unten zeigt die Veränderung der Antarktistemperaturen (Vostok) im Laufe von rund fünf Millionen Jahren, wie sie auch im Wikipedia-Eintrag zu "Global temperature record" zu finden ist.
Gilligan et al. 2024

Hinweise darauf liefern spitze Knochenwerkzeuge wie Ahlen, mit denen sich Löcher in Stoff bohren lassen und die es seit mindestens 75.000 Jahren in Afrika und 50.000 Jahren in Europa und Asien gibt. Durch diese frühen Nähtechniken war es möglich, Stoffe an den menschlichen Körper anzupassen.

Nicht nur nützlich, sondern schön

"Wir wissen, dass Kleidung bis zum letzten Eiszeitzyklus nur fallweise verwendet wurde", sagt Gilligan. Das geschah mit Fellschabern und Kratzwerkzeugen aus Stein, die je nach Klimaphase aufgetaucht und wieder verschwunden seien.

Aquarellbild eines Mannes in kälterer Klimazone. Er trägt mehrschichtige Kleidung aus Fellen, dekoriert mit Muscheln oder Schnecken und anderen Applikationen, die sich in Weiß vom dunklen Rauleder (?) abheben. Felle und Bart dürfen nicht fehlen.
Mit entsprechenden Nähtechniken kamen Kleidungsstücke von ästhetischer und sozialer Bedeutung.
Mariana Ariza

Die textile Revolution machen Gilligan und sein Team an einem späteren Zeitpunkt als dem Nachweis von Ahlen fest. Für sie bedeutet dies den Wandel von Kleidung als rein nützlichem Objekt hin zum Gegenstand der Dekoration mit sozialem Zweck. Um komplexere "statement pieces" wie mehrschichtige Kleidung und Verzierungen mit Perlen herzustellen, sei feineres Nähen besonders nützlich gewesen. Das sei vor allem mithilfe des Löchleins in der Nähnadel, durch die sich ein Faden ziehen lässt, machbar geworden.

Die ältesten Nadeln mit Öhr fand man bislang in Sibirien, sie sind etwa 40.000 Jahre alt. Womöglich gab es auch ältere Werkzeuge, die noch unentdeckt sind oder nicht erhalten blieben. Interessant ist daran aber, dass gerade aus dieser Zeit viele beeindruckende Artefakte stammen, von dreidimensionalem Schmuck über Knochenflöten bis zur Darstellung von Tier-Mensch-Chimären, die auf komplexe Gesellschaften schließen lassen. Manche Fachleute glauben daher, dass die Menschen von damals den heutigen sehr ähnlich waren und eine besondere Stufe technischen Fortschritts erreicht hatten.

Stichhaltige Beweise

Nun lässt sich darüber streiten, ob Menschen ihre Kleidung nicht schon verzierten, seitdem sie überhaupt welche trugen – vielleicht auch mit Methoden, die wir heute archäologisch für diese Zeit nur erahnen können, etwa durch farbliche Verzierung. Allerdings hob die Weiterentwicklung durch das Nadelöhr die Nähtechnik auf ein neues Niveau und machte ausgefeiltere Kleidung möglich.

Foto mit 32 Nadeln unterschiedlicher Längen und Farben. Die meisten weisen ein Nadelöhr auf, um Fäden durchzuziehen und so verschiedene Bestandteile zusammenzunähen.
Nadeln mit Nadelöhr kamen der Mode in Kaltzeiten besonders zugute.
Gilligan et al. 2024

"Wir nehmen an, dass das Tragen von Kleidung zum Menschsein dazugehört, aber wenn man sich andere Kulturen anschaut, begreift man, dass Menschen auch in Gesellschaften ohne Kleidung gut zurechtkommen", sagt Gilligan. Besonders interessant findet er daher den "Wandel von Kleidung als physische Notwendigkeit in manchen Umgebungen hin zu einer sozialen Notwendigkeit in allen Umgebungen".

Komplexere Gesellschaften?

Wann Nacktheit, Smoking, Jogginghosen und Kopftuch als angebracht gelten, ist immerhin relativ streng reglementiert. Kleidung erfüllt sowohl für den persönlichen Geschmack des Individuums als auch für die kulturelle Identität wichtige Funktionen. Und dort, wo regelmäßig Gewand getragen wurde, entstanden größere und komplexere Gesellschaften, weil man einerseits der Witterung weniger stark ausgesetzt war und andererseits innerhalb der Gruppe auf Basis gemeinsamer Kleidungsstile und Symbole besser zusammenarbeiten konnte, argumentiert das Forschungsteam.

Dass Jahrtausende später Schneiderinnen zugunsten der heiligen Fast Fashion für ihren Dienst an der Nähmaschine niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen bekommen würden, konnten sich unsere Steinzeitahnen nicht ausmalen. (Julia Sica, 30.6.2024)