Ein russischer Zar Mangal mit Minenroller.
Screenshot Telegram

Russische "Turtle Tanks" werden an den Fronten im Ukrainekrieg immer häufiger gesichtet. Nun ist es den ukrainischen Streitkräften erstmals gelungen, eines dieser scheunengroßen Ungetüme zu erbeuten. Das Urteil der Ukrainer über die neue "Wunderwaffe" der Russen fällt wenig schmeichelhaft aus.

Die Schildkrötenpanzer werden auf russisch auch "Zar Mangal" genannt. "Mangal" ist dabei so etwas wie der Slang-Ausdruck für spezielle Panzerung gegen Drohnen. Zar, für den russischen Kaiser, dürfte eine Anspielung auf den russischen Zar-Panzer aus dem Ersten Weltkrieg sein. Dabei handelte es sich um den Prototyp eines Kampfwagens mit riesigen Vorderrädern. Das Konzept hat aus naheliegenden Gründen nie richtig funktioniert. Die Hinterräder blieben im Schlamm stecken. Die Vorderräder boten riesige Ziele. Das Projekt wurde 1916 eingestellt, in der Propaganda lebt der Zar-Panzer aber bis heute weiter.

Die neuen russischen Schildkröten-Panzer erinnern eher an ein anderes Fahrzeug aus dem Ersten Weltkrieg: den Sturmpanzerwagen A7V der Deutschen. Das Design gilt zu Unrecht als Fehlschlag und war in einigen Ansätzen durchaus modern, hätte die Plattform doch als Basis für diverse Kampffahrzeuge dienen sollen.

Die neuen russischen Panzerkreationen hingegen kann man nicht als "modern" bezeichnen. Bei dem nun angeblich im Oblast Donezk erbeuteten Fahrzeug handelt es sich im Grunde um einen T-62M, auf den mit dünnem Blech eine Art gepanzerte Haube aufgesetzt wurde. Dabei kann man dieses Konzept durchaus als Weiterentwicklung der "Vogelkäfige" verstehen, denn auch die Zusatzpanzerung des Zar Mangal soll den Panzer gegen Drohnen schützen. Ironischerweise wurde das nun erbeutete Exemplar durch einen Drohnentreffer der 22. mechanisierten Brigade der ukrainischen Armee außer Gefecht gesetzt. Der Drohnenpilot hat auf die Laufräder des Panzers gezielt. Durch den Angriff brannte der Gummi eines Laufrade ab, wodurch der Panzer liegen blieb. Ein sogenannter Mobility Kill.

Fürchterliche Zustände

Als sich die ukrainischen Streitkräfte näherten, ergab sich eine ganze Infanterieeinheit der Russen, die laut Angaben der Ukrainer auf diesem Panzer wohl mehrere Tage "gewohnt" haben dürfte. Jedenfalls fanden sich auf dem Panzer improvisierte Schlafstellen, Proviant, Wasser und persönliche Gegenstände der russischen Soldaten. Die Bedingungen dürften erschreckend gewesen sein, zumindest legen das die Bilder nahe. Deshalb wird in einem von der ukrainischen Armee veröffentlichten Video auch der Vergleich mit Viehställen gezogen und von der "Scheunenbesatzung" geredet. Auch der Panzerkommandant und der Fahrer gerieten in Gefangenschaft.

Der Panzer diente offenbar für längere Zeit als Wohnstätte.
Screenshot UAF

Eine weitere Untersuchung ergab, dass der Turm des Panzers fixiert wurde. Das ist auch nicht weiter erstaunlich, schließlich wäre eine Turmrotation mit dem Aufbau der Zusatzpanzerung ohnehin nicht möglich. Aber auch die Hauptbewaffnung des T-62, eine 115-Millimeter-Kanone, wurde unbrauchbar gemacht. Dementsprechend hatte der Panzer auch keine Munition mit an Bord. "Der Panzer ist nichts anderes als ein Taxi", sagt Oberst Serhiy Misjura von der ukrainischen Armee.

Damit endeten die Modifikationen an dem Kampfpanzer aber noch nicht. Die in der Ukraine sehr großzügig eingesetzten Kontaktblöcke auf dem Panzer sind leer. Normalerweise sind diese mit Sprengstoff gefüllt. Im Fall eines Treffers soll die Reaktivpanzerung explodieren und dem Projektil eine Metallplatte entgegenschleudern, um dessen Wucht zu dämpfen.

Panzerung aus Blech von einem Schaltkasten

Der Aufbau des Panzers mag die aufgesessene Infanterie vor kleineren Schrapnellen schützen, aber zu mehr reicht es nicht. Die Wände bestehen meist aus dünnem Blech, das gegen gezielten Beschuss keinerlei Schutz bietet. An einer Stelle besteht die Panzerung sogar aus dem Gehäuse eines Stromverteilers, der Warnhinweis ist noch gut zu erkennen. Die übrige Panzerung besteht aus zusammengeschweißtem Altmetall.


Ein riesiger Aufbau aus dünnem Blech, das selbst von kleinkalibrigem Beschuss durchschlagen wird, von der Ausrüstung der Soldaten abgesehen keinerlei Bewaffnung, warum fährt man mit so einer Konstruktion ins Gefecht? Diese Frage stellt sich auch die ukrainische Armee. Wie sich herausstellte, war der Aufbau nicht nur als Unterkunft gedacht, sondern enthielt auch eine große Menge an elektronischen Störgeräten. Diese waren wohl dafür gedacht, ukrainische Drohnen im Umfeld um den Panzer zu stören – und gleichzeitig der in Wahrheit einzige Schutz des Fahrzeugs. Aber: "Wenn es eine Drohne irgendwie durch die Störmaßnahmen schafft, dann nützt das Blech gar nichts", erklärt Misjura.

"Wir haben eine ganze Galerie von Störgeräten gefunden. Diese haben wir entfernt und untersuchen sie jetzt genauer", so Misjura.

Ein zerstörter "Turtle Tank".
Screenshot Telegram

Ansonsten sei der Schildkrötenpanzer nichts anderes als eine leere Box und ein Taxi für die Infanterie. Unverständnis beim Ukrainer: Das Fahrzeug hat seine gesamte Feuerkraft verloren, es kann den Turm nicht drehen. Was noch dazukommt: Der Fahrer des monströsen Vehikels ist nahezu blind, denn eine Außenkamera hat der Zar Mangal nicht. Am Turm wurde die Luke des Ladeschützen zugeschweißt. Nur der Kommandant sitzt im Turm des Panzers, wo er ebenfalls nahezu blind ist.


An dem über 60 Jahre alten Panzer wurde nur das Funkgerät erneuert, ansonsten ist das Gefährt im Originalzustand der 60er-Jahre. Verkabelt wurden die Störgeräte übrigens mit Telefonkabeln eines TA-57. Dabei handelt es sich um ein Feldtelefon aus der Stalin-Ära, wie Misjura erklärt. In der Fahrt verursacht der Panzer einen höllischen Lärm, und der alte Motor stößt riesige Rauchwolken aus, berichtet der Panzerfahrer, der den Zar Mangal geborgen hat. Er war erstaunt, dass alle Gänge funktionieren, auch wenn es mit erheblichem Kraftaufwand verbunden ist, die Gänge zu wechseln. Die Sicht aus der Fahrerluke war so schlecht, dass ein zweiter Soldat auf dem Panzer sitzen und dem Fahrer sagen musste, wohin er das Ungetüm lenken soll. "Solches Material gehört verschrottet und nicht an die Front", so das Fazit des Fahrers namens "Wedge". Das Urteil des Obersts über den Schildkrötenpanzer lautet entsprechend: Das "Wunderwerk russischer Technologie" sei "blind, laut und dumm".

Nicht völlig nutzlos

Doch ist das Konzept wirklich völlig nutzlos, wie es die Ukrainer darstellen? Nein, sagt der Militäranalyst Rob Lee. In manchen Fällen haben sich die riesigen Fahrzeuge bewährt. So sei es den Russen gelungen, dank der Störmaßnahmen gegen Drohnenangriffe und eines am Panzer angebrachten Minenrollers erfolgreich durch vermintes Gelände bei Krasnogorowka vorzustoßen. Außerdem sind nicht immer nur museumsreife Panzer wie der T-62 die Basis für die fahrenden Scheunen. Auch die wesentlich moderneren T-72- und T-80-Kampfpanzer wurden bereits zu Zar Mangals umgebaut.

“Die Russen passen sich an die besonderen Bedingungen des Schlachtfelds an, zu denen eine hohe Präsenz von Drohnen und ein Mangel an Panzerabwehrraketen, Minen und Artillerie gehören", so Lee. Wenn man viele Funkkanäle gleichzeitig stören kann, mache das die Nachteile der Zusatzpanzerung wieder wett, schreibt er.

Ein liegengebliebener Schildkrötenpanzer.
Screenshot Telegram

Auf russischer Seite ist man jedenfalls stolz auf die Konstruktionen. In den russischen sozialen Medien rufen Soldaten dazu auf, für die Konstruktionen zu spenden, wie Forbes berichtet. "Wir sind sehr glücklich", sagte ein russischer Panzersoldat des 218. Panzerregiments in der Südukraine in einem dieser Videos. Eine der Spendenaktionen war erfolgreich, und dank Spenden von russischen Bürgerinnen und Bürgern konnten zusätzliche Ketten gekauft werden, die von der Decke der Konstruktion hängend ukrainische Drohnen abwehren sollen. "Wir werden das alles weiter ausbauen und verschweißen", sagt der russische Soldat in seinem Video zu seinen Spendern. "Wir haben schon viel geschafft, danke euch." (Peter Zellinger, 29.6.2024)