Die Vielfalt, Schönheit und Zerbrechlichkeit der Welt lassen sich nicht nur reisend, sondern auch lesend erfahren.
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Wer von Reisen heimkehre, der habe, so der Volksmund, etwas zu erzählen. Nur: Was? Nun hat der Essayist Stephan Wackwitz tatsächlich aber nach langer Lebensreise etwas zu berichten. 26 Jahre stand er in Diensten des Goethe-Instituts, einer für die globale Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur zuständigen Einrichtung. Geheimnis der Rückkehr. Sieben Weltreisen heißt sein Memoir.

Zu diesem subjektiven Genre gehört, dass die Rede vom eigenen Ich ist, was jedoch weder bei seiner Schulzeit in einem pietistischen Internat in Schwaben noch später bei seinen Paarbeziehungen zu interessieren vermag. Hochinteressant und außerordentlich lesenswert ist der elegante Stilist und eifrige Stadtgänger Wackwitz hingegen dann, wenn er von seinen Aufenthalten in Bratislava berichtet, von Transformationen dort wie einige Jahre später in Georgien und in seiner letzten Arbeitsstation, in Minsk, Mitte der 2010er-Jahre.

In feinen Vignetten bringt er welteuropäisch Erhellendes über Menschen und Kultur, über Politik, Architektur, Mentalitäten und Repressionen zu Papier, eindringlich, tief blickend und aufklärerisch.

"Unterwegssein, das war meine Art zu fragen", meinte Hugo Loetscher, der 2009 achtzigjährig starb. In seinem Heimatland, der Schweiz, war und ist er weltbekannt. Wie nicht wenige Autorinnen und Autoren seiner Generation zog es ihn aus der engen Alpenrepublik heraus.

Intensität der Fremde

Er kam weiter als andere – nach Portugal und Timor, nach Afrika, Südamerika und Asien –, war zugleich ein wacher Porträtist Europas, von Paris, Salamanca oder Toledo und schrieb gern im Auftrag einst bedeutender Schweizer Zeitungen. Peter Erismann und Jeroen Dewulf haben nun mit kundiger Hand eine Auswahl der Loetscher’schen Weltreisereportagen zusammengestellt.

Natürlich ist das Reisejournalismus. Als dieser allerdings noch Literatur war. Selbstredend dachte Loetscher, belesen und mehrsprachig, über das Grundproblem der literarischen Reportage nach, die frei von Tageshatz verfasst wird. Das lässt sich gleich im menschenfreundlichen wie langen Auftaktessay nachlesen, den er 1999 schrieb. Weltläufigkeit und die Faszination der Gleichzeitigkeit, Nähe versus Fremde, intellektuelle Konzepte, Intensität und bannende Fremde, all das lässt sich in diesen Texten aus vier Jahrzehnten nachlesen. Dieser schön gestaltete Band ist eine feine Ehrung Loetschers wie eine fast noch schönere Hinführung zu seinem Prosawerk.

Die historische Standseilbahn Elevador da Bica in Lissabon.
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Flusserzählungen

Burkhard Müller, Literaturkritiker und Lateindozent an der Technischen Universität Chemnitz, nimmt sich reisend die Elbe vor. Nun verheißen Flussreisen spezifisch Spezielles. Das Tempo ist anders, die Natur durchströmt buchstäblich die Geschichte, reagiert auf sie und auf den Menschen und ignoriert beide oft mit souveränem Stoizismus. Müller hat sich für seine Fahrten entlang des tschechisch-deutschen Flusses kein Basso continuo gewählt, kein stetes Grundthema, was verwundert.

Interessant und lohnend ist die erste Sektion, wenn er in Böhmen unterwegs ist, auch Karl Kraus seine Reverenz erweist – Müller wurde einst über Kraus promoviert – und durch barocke Schlösser, Parkanlagen und Ortschaften streift. Das liest sich angenehm und leicht.

Nicht ganz so zwingend mutet die Flusserzählung zwischen Bad Schandau und Tangermünde an. Auch weil er zu selten auf dem Wasser ist (lediglich in Dresden), später selten ausdauernd zu Fuß geht und kein einziges Mal mit dem Kanu den Strom erkundet oder gar schwimmt.

Manchmal fordert er Widerspruch heraus, so in Dessau. Seine Antipathie wider das Bauhaus ist recht willkürlich – und zeugt nicht gerade von tiefgehender Vorablektüre. Auch dass er immer wieder hervorkehrt, dieses Museum sei geschlossen, anderes nicht zugänglich, zeugt eher von fröhlichem denn von sorgsam geplantem Reisen.

Am wenigsten fällt Müller, wie merkwürdig, etwas zu Hamburg ein, der größten Stadt an der Elbe; hier behilft er sich mit anekdotischen Erinnerungen des befreundeten Autors Michael Kleeberg. Im Finale, auf den letzten hundert Kilometern, wenn die Elbe sich weitet und schließlich in die Nordsee ergießt, merkt man, Müller hätte sprachlich durchaus das Vermögen, die Natur wortmächtiger zu schildern, intensiver, und eben nicht nur als Schlenderer und impressionistischer Bummler. Vergleicht man Müllers Band mit Uwe Radas Elbe-Buch von 2014, ist der Unterhaltungswert ähnlich, der Erkenntniszuwachs lediglich graduell.

Alexander Kluy, geb. 1966, lebt als Autor, Journalist und Herausgeber in München. Er ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. einer Alfred-Adler-Biografie (DVA). Zuletzt erschien von ihm das Buch "Giraffen. Eine Kulturgeschichte" (Edition Atelier, 2022).
Filippo Cirri

Unterwegs ins Morgenland

Bernd Brunners Unterwegs ins Morgenland. Was Pilger, Reisende und Abenteurer erwarteten, und was sie fanden auf einer Skala zu verorten fällt nicht leicht. Dass der Kulturwissenschafter originelle Zugänge fand und unterhaltsam über das Aquarium, den Mond oder Vogelmanie schrieb, ist bekannt. Umso verwunderlicher ist daher sein jüngstes Buch, das er auch "Jerusalem von außen" hätte betiteln können. Vom vierten Jahrhundert nach Christus bis Theodor Herzl anno 1898 reicht der Bogen. In 40 knappen Kapiteln lässt er in einer chronologisch arrangierten Revue zahllose Pilger, Kleriker, Reisende, die später darüber berichteten, Wissenschafter und Archäologen und in Maßen Abenteurer auf- und schattengleich wieder abtreten.

Längere Zitate reihen sich an Zitate, die nicht durch Fuß- oder Endnoten nachgewiesen sind. Die einzelnen Sektionen stehen weitgehend unvermittelt nebeneinander. Das Ganze mutet wie ein Opus an, das sich dem Excel-Programm verdankt. Nicht wirklich wird klar, wieso dies Buch zu schreiben war. Dass vor allem das Säkulum der "Ismen", das 19. Jahrhundert, Nationalismus und Chauvinismus ebenso schuf und hochkochen ließ wie Imperialismus und Antisemitismus, ist hinlänglich bekannt.

Dass im Landstrich Palästina, der bis 1918 zum immer fragileren, immer dysfunktionaleren, schließlich verdunstenden Ottomanischen Reich gehörte, sich all das fokussierte, dies zusammenzureimen überlässt Brunner der Leserschaft. Wer mehr über Jerusalem als Sehnsuchtsort erfahren möchte, der greife zu Simon Sebag Montefiores opulenter Stadtbiografie und ergänz diese durch Jodi Magnes’ jüngst erschienenes Jerusalem Through the Ages. Brunner endet mit einigen Bemerkungen über die Balfour Declaration von 1917. Exakt 30 Jahre zuvor war Friedrich Nietzsche zum letzten Mal in Venedig.

Jerusalem
Nach Lissabon, Jerusalem oder Venedig (unten im Bild)?
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Sehnsuchtsorte

Die Nietzsche-Editorin Renate Müller-Buck widmet diesem Aufenthalt und den vier Aufenthalten des deutschen Philosophen zuvor, 1880, 1884, 1885 und 1886, mit "…zitternd vor bunter Seligkeit"Nietzsche in Venedig ein schmales, überaus gelungenes Büchlein, das der Wallstein-Verlag mit feinen Illustrationen ausstattete, allerdings etwas nachlässig Korrektur lesen ließ.

Die Lagunenstadt war und wurde Sehnsuchtsort für den 1844 geborenen Nietzsche, der mit 25 – ohne Doktortitel – Extraordinarius in Basel wurde, zehn Jahre später, marod an Leib und Seele, von der Stelle zurücktrat und danach bis zu seinem Zusammenbruch Anfang 1889 in Turin als "garçon meublé", als möblierter Kerl, durch die Schweiz, nach Nizza und Norditalien zog, rastlos, entscheidungsjäh bis sprunghaft, von starken körperlichen Malaisen ausdauernd geschwächt, stetig erblindend und hektisch auf der Suche nach einem Halt gebenden Ort.

Müller-Buck schildert ihn und seine Venedig-Aufenthalte detailliert und atmosphärisch dicht als dramaturgisch geschickte, spannende Montageerzählung der unablässigen und noch heute mit Vergnügen zu lesenden Korrespondenz mit Freunden, vor allem mit dem recht erfolglosen Komponisten Heinrich Köselitz, den Nietzsche kurzerhand umbenannte in "Peter Gast", den er zu fördern versuchte, was vergeblich war, und den er immer wieder von neuem in blitzschnellem Wandel von Bitte zu Paternalismus ausnutzte.

Das ist so eindringlich wie sehr schnell die Frage aufwerfend: Wie nur schaffte es ein derart von Krankheiten sekkierter, von Plagen aller Art derart eingeschränkter Denker, all das zu Papier zu bringen, was die Philosophie der Moderne grundlegend verändern sollte?! Er war der Philosoph mit dem Hammer, hätte allerdings real kaum einen Hammer in der Hand halten können. Wenn dieses Büchlein nicht dazu verführt, umgehend Nietzsches Spuren in der Stadt der Pfähle zu folgen – wer dann?

Canale Grande, Venedig
"Unterwegssein, das war meine Art zu fragen", schrieb Hugo Loetscher in einer seiner Reisereportagen, die nun in Buchform vorliegen.
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Klischees meiden

Gesteigert wird die Sehnsucht nach Italien durch ein Lesebuch mit ausgesuchten Feuilletons des Theaterkritikers Alfred Kerr (1867–1948). Ja, es ist ein Zauberort. Italienische Reisen setzt ein mit einer viel zu wenig bekannten Stadt der Kanäle, mit Chioggia, woraufhin dann Venedig folgt, das in mehreren Miniporträts skizziert wird.

Kerr fuhr aber kreuz und quer, er kam an den Gardasee, er besah sich Florenz, Padua und Genua, er hielt sich länger in Rom auf, der Stadt, die Nietzsche nur ganz kurz ertrug, er reiste – Goethes Spuren waren nie ganz fern – nach Neapel und Messina. Er bereiste auch die kleine Insel Elba und die große Insel Sardinien, von dort setzte er nach Korsika über. Dem rebellischen Eiland widmete Kerr sogar ein 120 Seiten langes Buchporträt, das 1933 (!) noch in Berlin bei S. Fischer erschien.

Vier Generationen alt ist die Prosa, aber noch immer pointiert, lebendig und graziös, leichtfüßig und voller Esprit, wenn auch hie und da nicht alle Klischees gleichgültig meidend. Kerrs einst modernistisch-subjektive sprachlich bockige Eigenwilligkeit lässt ihn zu unserem Zeitgenossen werden, und zu dem der anderen Autoren, die in und um die Welt reisend aufbrachen. (Alexander Kluy, 29.6.2024)