Berge
Goethes "Über allen Gipfeln ist Ruh" gilt nicht mehr. In Form von E-Bikes folgt die Maschinenwelt jetzt auch dem Fußgänger dorthin, wo er bislang vor ihr sicher war.
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Was die Alpen für Wanderer so attraktiv macht, ist nicht nur das Panorama. Es ist auch die Tatsache, dass hier noch Wege nach menschlichem Maß zu finden sind, auf denen man nicht vor irgendwelchen Fahrzeugen in Deckung springen muss. Zumindest war das mal so. Inzwischen ist das alte Wegenetz der Bergbauern und der Alpenvereine auch von Mountainbikern entdeckt worden, denen die Fortbewegung auf leicht befahrbaren Almstraßen nicht spannend genug ist. Die Tourismusdirektoren und Bergsportverbände wissen um den ausgebrochenen Konflikt, meinen aber, die Lösung zu kennen: das Appellieren an Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme, wobei dem Fußgänger stets Vortritt zu gewähren sei.

Letzteres hört sich gut an, ist aber leider weltfremd. Der Biker müsste ja so lange hinter den vor ihm gehenden Fußgängern herschieben, bis die Trasse einmal breit genug ist fürs Vorbeifahren. Kein Wanderer wäre so herzlos, jemandem das zumuten zu wollen. In Wirklichkeit hat also stets der Schnellere Vortritt, muss der Rucksackträger an den Rand treten, den Weg frei machen. Was auch der Österreichische Alpenverein (OEAV) zugeben muss, der zwar vom "Vorrang" des Wanderers spricht, von diesem aber zugleich fordert, Mountainbiker passieren zu lassen, "ohne deren Fahrt unnötigerweise zu behindern". Die Ausschilderung eines "Shared Trail" hat für den alpinen Fußgänger deshalb nur genau einen Vorteil: Er weiß sogleich, wo er in Zukunft nicht mehr hinzugehen braucht!

Eine hübsche Illusion

Warum die Gleichberechtigung von Raumansprüchen eine hübsche Illusion bleibt, ist klar: Wird jemand, der sich dem beruhigenden Rhythmus seiner Gehwerkzeuge überantwortet hat, in kürzerer Zeit zwei oder drei Mal von schnell von hinten kommenden Radlern aufgeschreckt, so findet er kaum noch zu seiner vorherigen mentalen Windstille zurück. Immer wieder ertappt er sich dabei, sich beim kleinsten, nicht eindeutig lokalisierbaren Geräusch nervös umzudrehen. Mit dem alpinen Radelverkehr wird ihm genau die Anspannung des Nervensystems aufgedrängt, vor der er im Gebirge Zuflucht gesucht hatte. Rücksichtslosigkeit seitens der Rollsportler braucht es dafür gar nicht: Jeder Radfahrer weiß aus Erfahrung, dass es so gut wie unmöglich ist, einen vor einem gehenden Fußgänger nicht zu erschrecken – gleich ob er klingelt, "Entschuldigung" ruft oder langsam und wortlos an ihm vorbeirollt.

Im europäischen Hochgebirge war das Problem bis vor wenigen Jahren noch vernachlässigbar. Die wilde Topografie hatte die meisten Radler abgeschreckt. Die Zeiten, da sich vereinzelte Gerätesportler die Hänge hinauf quälten, sind aber vorbei. Inzwischen ist mehr als jedes zweite verkaufte Mountainbike ein Pedelec, ein Rad mit elektrischer Trethilfe. Dank der heute üblichen Motorenleistung fliegt man jetzt die Hänge hinauf, dreimal schneller als ohne Unterstützung. Wer bisher in einer Stunde 400 Höhenmeter schaffte, schafft jetzt 1000 Meter und mehr, ohne sich das T-Shirt durchzuschwitzen.

Die Zahl derer, die in die Formel 1 der Bergradler überwechseln, steigt auch deshalb so explosiv an, weil die Zweiradindustrie es geschafft hat, das E-Bike vom Negativimage zu befreien, eine Mobilitätsprothese für die Großelterngeneration zu sein. Auf der Kitzbüheler Website ist von "Genussbikern mit dem Erlebnis Gipfelsieg" die Rede, ein Veranstalter im Schweizer Val Müstair lockt mit den Worten "Schneller, weiter, höher hinaus ... Muskelkraft ist gut – mit Batteriekraft geht’s jedoch besser." Auf allen diesen Fotos sind die Radler auf schmalsten Bergwegen unterwegs. Der gesetzliche Graubereich macht es fast überall möglich, auch Wegeformate unter die Räder zu nehmen, die eben noch als unbefahrbar galten.

"Wir brauchen höhere Berge"

Kein Wunder, dass manche Sportsfreunde bereits bedauern, dass es so einfach geworden ist, bis zu den Gipfeln hinaufzufahren: "Wir brauchen höhere Berge", heißt es im Werbeprospekt eines Herstellers. In der Fremdenverkehrsbranche wird die ausgebrochene Materialschlacht natürlich begrüßt. Dass man die solvente Gästeschicht der Komfortradler hofiert, ist wenig verwunderlich: Irgendwie müssen die Einnahmerückgänge des Wintersportgeschäfts ja kompensiert werden. Und der Erfolg gibt den Touristikern recht: Nicht zuletzt durch die neue Trethilfe ist das Mountainbiken drauf und dran, zum Wintersport des Sommers zu werden, zur lukrativsten Idee seit der Erfindung des Schlepplifts.

Die Verärgerung der sich auf zwei Beinen vorwärtsbewegenden Stammgäste wird dabei in Kauf genommen. Offenbar vertraut man darauf, dass die Wanderer sowieso kommen. Sie müssten sich einfach nur ein bisschen in Toleranz üben und sich daran gewöhnen, dass die alpinen Fußwege nun auch als "Single Trails" beworben werden – und schon entstehe ein harmonisches Nebeneinander!

Dass sich die Probleme auf diese Weise lösen lassen, grenzt an Selbstbeschwörung. Die Asymmetrie zwischen den Nutzergruppen hat nun mal handfeste Gründe: Während der Wanderer weder Helm noch Schutzkleidung trägt, ist der sicherheitstechnisch aufgerüstete und durch Helm und Brille anonymisierte Mountainbiker mit einem Hightech-Fahrgerät unterwegs, auf dem er mit höherer Geschwindigkeit, also mit weit größerer physikalischer Energie dahergebraust kommt und seiner Umwelt auf diese Weise regelrecht gefährlich werden kann.

Eingeschränkter Spielraum

"Was die Berg-und-Tal-Radler in der Landschaft anrichten, wird allzu wenig bedacht", sagt Pius App, Besitzer des Swiss-Historic-Hotels auf der Davoser Schatzalp, dessen Sommergäste unter der Zunahme des MTB-Verkehrs leiden. Während die Wanderer mit ihren breiten Sohlen die Oberfläche eher noch verdichteten, würde durch die Mountainbiker auf Gefällstrecken die Erde ‚weggebremst‘, sodass beim nächsten Gewitter der verbliebene Rest des Trassees weggeschwemmt werde.

Klar, dass die Wege dann kaum noch zu begehen seien und die Biker dazu übergingen, durch die umgebenden Bergwiesen zu fahren. "Um eine Szene anzuziehen, für die die Alpen nur noch Spiel- und Sportplatz sind, wird der Bewegungsspielraum für die stille Erholung immer weiter eingeschränkt", mahnt App. In Davos, das sich mit dem Slogan "Sports unlimited" positioniert, ist mittlerweile eine fünfköpfige Mannschaft den ganzen Sommer damit beschäftigt, die Schäden auszubessern – ein erheblicher Kostenfaktor, der weniger solvente Regionen vor unlösbare Probleme stellen wird.

Aufstiegshilfe unterm Allerwertesten

In der Tat lässt sich feststellen, dass Aktivitäten, die nicht technisch vermittelt sind, weiter und weiter zurückgedrängt werden und die Alpen nach und nach ihren Charakter als Refugium der Entschleunigung verlieren. Motor dieser Entwicklung ist im Moment zweifellos der E-Bike-Boom.

Mit den sündhaft teuren und nicht selten auch getunten Spezialfahrzeugen folgt die Maschinenwelt dem Fußgänger nun auch dorthin, wo er bislang vor ihr sicher war – auf die ruppigsten und steilsten Gebirgspfade. Das technisch hochgerüstete Wintersportgeschehen hat auf diese Weise seine sommerliche Entsprechung bekommen, mit dem kleinen Unterschied, dass die Akteure sich nicht mehr zu einem öffentlichen Sessellift bewegen müssen, sondern ihre persönliche Aufstiegshilfe schon unter dem Allerwertesten haben – in Form des im Rahmen eingebauten Akkus. Axel Doering, der Präsident der Alpenschutzorganisation Cipra Deutschland, spricht deshalb von einer "neuen Dimension der Motorisierung der alpinen Landschaft".

Was wir bisher im Winter durch die Seilbahnen hätten, werde durch das E-Bike flächendeckend: "Nach den räumlich noch begrenzten Eingriffen für Skigebiete und Funparks folgt jetzt die kapillare Erschließung der Alpen, von der kein Fleck mehr verschont bleibt." Wenn er recht hat, so sind die Unterschiede zwischen erschlossenen und unerschlossen Räumen bald Geschichte, droht den letzten naturräumlichen Fußgängerzonen jenes Fahrzeugaufkommen, vor dem man eben noch in sie floh. Dass irgendwo ernsthaft gegengesteuert würde, ist jedenfalls nicht zu erkennen.

Nicht viel Eigenleistung

Beim Deutschen Alpenverein werden kritische Stimmen stets damit beruhigt, dass es sich auch beim E-Biken um eine Fortbewegung mit eigener Körperkraft handle. Ein Argument, dem nur schwer zu folgen ist. Wer einmal auf einem Pedelec gesessen und in den Turbomodus gewechselt hat, weiß ja sehr genau, dass das mit Eigenleistung nicht mehr viel zu tun hat. Im falschen Stolz auf den kleinen Rest eigener Kraftanstrengung wird ausgeblendet, dass man mit Akku-Unterstützung Motorsport betreibt und damit in eine Fahrzeugkategorie wechselt, die man im alpinen Gelände bislang nur mit Ausnahmegenehmigung verwenden durfte – als Landwirt, Hüttenwart oder Forstbediensteter. Hält man wie der weltgrößte Bergsportverband an der rechtlichen Gleichstellung von klassischen Mountainbikes und Pedelecs fest, so bedeutet das, der motorisierten Fortbewegung auf Wanderwegen Tür und Tor zu öffnen.

Als etwas restriktiver erweist sich der Österreichische Alpenverein, für den das elektrisch beschleunigte Radeln im "Widerspruch zu den Grundsätzen des Alpenvereins steht" und deshalb keinesfalls als "Kernsportart" anerkannt werden dürfe. In seinem Positionspapier erscheint das Pedelec wegen seines Energieverbrauchs und Ressourceneinsatzes auch nicht einfach als umweltfreundliches Fortbewegungsmittel.

Aktiv bewerben will der Österreichische Alpenverein den neuen Pseudo-Sport dennoch nicht. Und Ladestationen dürfen auf den Hütten nur dann angeboten werden, "wenn überschüssiger Strom aus regenerativen und bereits vorhandenen Energiequellen stammt oder die Hütte am öffentlichen Stromnetz mit zertifiziertem Ökostrom angeschlossen ist". Gut gemeint, sicher. Allerdings fragt sich, ob all dies nicht bereits von der Realität überholt ist und der in den Nachbarländern längst befriedigte Nachfragedruck nicht früher oder später Tatsachen schaffen wird. Entsprechend ungeduldig ist auch der Grazer Freizeitrechtler Wolfgang Stock. Er verlangt, endlich tätig zu werden und "ein Modell der Freizeitraumordnung zu schaffen, das die so verschiedenen Nutzergruppen systematisch voneinander trennt". (Gerhard Fitzthum, 29.6.2024)