Fiston Mwanza Mujila
"Hier erzählt eine Ich-Figur von Kindersoldaten, Krankheit, Entstellung und immer wieder vom Fluss Kongo, der für Leben und Identität in ihrer Bedrohtheit steht": Fiston Mwanza Mujila.
Ingo Petramer

Fiston Mwanza Mujila ist ein großer und unbändiger Sprachspieler. Dass er ausgerechnet den österreichischen Dichter Ernst Jandl als eines seiner großen literarischen Vorbilder nennt, verwundert nicht. Denn wie bei diesem Urvater der modernen Lautpoesie kommt auch bei Fiston die Literatur stets humorvoll daher.

Gemeinsamer Klangkörper

Es war 2015, dass ich Fiston erstmals getroffen habe. Er hat damals in einer heruntergekommenen Bude mitten im gutbürgerlichen Graz einen Lyrikworkshop gegeben und dabei von einem Fluss erzählt. Er selbst sei durch eine lange Ahnenreihe auf das Engste mit dem großen Fluss verbunden, der durch die Demokratische Republik Kongo fließt. Dieser Fluss spiele auch in seiner Literatur eine immense Rolle. Der Fluß im Bauch heißt das erste Buch, das von ihm in deutscher Übersetzung erschienen ist. Zusammen mit den französischen Originalen wurden diese Gedichte im Jahr 2013 eher versteckt in der kleinen Edition Thanhäuser publiziert.

Fiston hat uns damals in dem Workshop mit Textbeispielen versorgt, die sehr detailliert von den Schwierigkeiten der Übersetzung berichteten. Einen heftigeren Eindruck machte auf mich etwas anderes. Fiston erzählte auch von der Art und Weise, wie solche Gedichte bei ihm zu Hause vorgetragen würden. Da halte sich niemand an die schriftlich fixierte Form. Auch Literaturhäuser oder gar Literaturmuseen oder andere unvergleichbar brave Orte gebe es in seinem Heimatland nicht. Dafür aber wogende Räume der Rezeption. Während des dichterischen Vortrags werde wild extemporiert. Wie in einem gemeinsamen Klangkörper seien das Publikum und der Dichter beim Vortrag vereint. Es werde spontan Beifall geklatscht oder Unmut geäußert.

Der Fluss und das Leben

Anhand von Gedichten aus seinem ersten Lyrikband machte Fiston die Sache in dem heruntergekommenen Haus in dem schönen Grazer Bezirk auch gleich vor. Der Fluss fuhr in dieser Performance gleichsam in den Körper des Dichters ein, riss ihn fort und nahm ihn mit. An anderer Stelle hat Fiston noch einmal erklärt, was es mit diesem Fluss auf sich hat, er schreibt: "Hier erzählt eine Ich-Figur von Kindersoldaten, Krankheit, Entstellung und immer wieder vom Fluss Kongo, der für Leben und Identität in ihrer Bedrohtheit steht. Es gibt eine Ambiguität in diesem Fluss. Für einige symbolisiert er die Größe Afrikas und könnte den ganzen Kontinent ernähren. Aber er streikt, macht nichts. Wenn Konflikte ausbrechen, macht er sich daran, die Leichen fortzuschaffen."

Fiston Mwanza Mujila wurde 1981 in Lubumbashi geboren, einer Stadt mit heute mehr als zwei Millionen Einwohnern im Süden ebenjener Demokratischen Republik Kongo. Bis heute ist diese nach Kinshasa zweitgrößte Stadt des Landes ein Zentrum der Bergbau- und vor allem der Kupferindustrie. Noch in Lubumbashi studierte Fiston Literatur- und Humanwissenschaften. Eigentlich wollte er Musiker werden, "aber es gab", wie er in einem Interview sagte, "keine passende Musikschule". Seine Familie konnte sich das Studium leisten, sie gehörte zur urbanen Mittelschicht und legte großen Wert auf Bildung.

Dazu gehörte, dass alle Kinder der Familie perfekt Französisch sprechen sollten. Fiston las in jungen Jahren Camus, Sartre und Simone de Beauvoir. Nicht als Flüchtling, sondern mit einem Begabtenstipendium kam er im Jahr 2007 nach Europa und lebte unter anderem in Belgien, Deutschland und Frankreich. 2009/10 war er Stadtschreiber in Graz, wo er sich danach ansiedelte und bis heute lebt. Fiston ist auch als Herausgeber und Kurator (und dabei nicht allein von afrikanischer Literatur) tätig, derzeit verantwortet er die Sparte Literatur im interdisziplinären Raum des Forum Stadtpark in Graz. Auch das von ihm gegründete Literaturfestival Weltwortreisende strebt nach Offenheit und Austausch, denn diese – wie sie im Untertitel heißen – "transnationalen Literaturtage" definieren sich wörtlich "als eine Kreuzung der Literatur und als ein Treffpunkt der Sprachen und Weltvorstellungen". Eine "Poesie der Gerechtigkeit" liegt derKuratierung des Programms zugrunde. Die "vielfältig-hybriden Stimmen von Weltwortreisenden sollen hörbar gemacht werden. Und dieser vielstimmige Chor poetologischer Diversität spiegelt sich dann in verästelt-komplexen und alles andere als homogenen Erzählweisen wider."

Polyphone Formen

Was Fiston hier im Programmtext seines Festivals in so deutlichen Worten beschreibt, gilt auch für seine eigenen Prosaarbeiten. Mit zwei großen Prosabüchern, die eben keine klassisch geformten Romane sind, sondern ganz neuartige polyphone Formen, hat er sich in den letzten Jahren im internationalen und auf der Basis der deutschen Übersetzungen dann auch im deutschsprachigen Literaturbetrieb eine zentrale und unübersehbare Stellung erschrieben. Beide Werke sind bei Zsolnay erschienen, Tram 83 im Jahr 2016 und Tanz der Teufel im Jahr 2022, jeweils in einer Übersetzung von Katharina Meyer und Lena Müller.

Tram 83 und Tanz der Teufel wurden von der gesamten deutschsprachigen Literaturkritik als Sensationen gefeiert. Eine breite Leserschaft schloss sich dann diesem Urteil an. Auch ich gewann bei Tram 83 den sofortigen Eindruck: Was für ein cooles Buch! Es ist in einer heißen, lauten Bar in einer Großstadt im Kongo angesiedelt. Es herrscht Goldgräberstimmung, aber afrikanisch. Ein nepotistischer General schließt und öffnet die Minen und vergibt Schürfrechte freihändig. Die Leute, die seine gewalttätigen Schergen fürchten, machen sich über seinen viel zu kleinen Schniedel lustig. Woher sie davon wissen? Ein Mann namens Requiem, ein dubioser Geschäftemacher und Zuhälter, hat Nacktfotos aus einem Bordell ins Netz gestellt.

Der Stein ist die Religion des Landes. Er wird angebetet und besungen. Fast überall wird nach ihm geschürft, selbst aus Kellern in der Stadt schleppen die Leute Säcke mit Abraum. Am Abend treffen sich alle im Nachtklub. Tram 83 heißt der Ort, ein Tummelplatz unterschiedlicher Menschen, Sprachen, Dialekte und Rhythmen. Minenarbeiter und ehemalige Kindersoldaten prahlen mit Unglücksfällen und blutigen Taten. Ausländische "Touristen mit Gewinnabsicht" und lokale Lords pflegen ihre Geschäfte. Sogenannte Single-Mamis und Küken bieten auf den gemischten Toiletten ihre Dienste an. Auch eine Bühne gibt es im Lokal, mit rasch wechselndem Musikprogramm.

Kampf um Autonomie

An eine Figur zoomt sich der Roman besonders nahe heran, ohne aus ihm einen strahlenden Helden zu machen. Lucien ist ein angehender Schriftsteller. Sein Schicksal ist zwischen Requiem, seinem Schutzherrn, und einem ausländischen Verleger eingepasst, der ihm eine Veröffentlichung verspricht. Beständig kämpft der junge, freundliche Mann um die Autonomie und die Eigenarten seines Schreibens. Lobgedichte auf ein authentisches Afrika, die manche von ihm erwarten, sollen es ebenso wenig sein wie allzu viele Konzessionen an den europäischen Markt.

Einen noch einmal anders akzentuierten Raum als Widerlager der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse eröffnet das zweite große Prosabuch des Autors. In Tanz der Teufel wird ein österreichischer Schriftsteller, der aus Sankt Pölten stammt, ins Herz der Finsternis geschickt. Franz Baumgartner, so heißt der Mann, soll ein Porträt der "Madonna der Minen" liefern. Diese Frau, der Sage nach soll sie 200 Jahre alt sein, wacht wie eine Muttergöttin über den Bergbau im benachbarten Angola. Dorthin hat es in diesem Buch einen eher unstrukturierten Haufen von Glücksrittern verschlagen.

Auch der politische Hintergrund ist diesmal mit stärkeren Strichen gezeichnet. Das Land, aus dem die Schatzsucher kommen, heißt hier nicht mehr Kongo, sondern Zaire. In Jahren des Mobutu-Regimes 1971–1997 wurden das Land, der Fluss und die Währung mit diesem vermeintlich afrikanischen Urwort bezeichnet, in Wahrheit stammte es von den Portugiesen. Mobutu hatte nach außen eine großangelegte Re-Afrikanisierung im Sinn. In einer nachgestellten Anmerkung zu seinem Buch schreibt Fiston, die Jahre Mobutus seien "Jahre der Utopien, Träume, Fantastereien und anderer unkontrollierter Wünsche nach sozialem Aufstieg, dem Streben nach schnellem Geld und der Schändung der Orte der politischen Macht gewesen".

Alles ist möglich

Alles war möglich in den Mobutu-Jahren, und kaum etwas ist unmöglich für die Figuren, die Fiston auch in diesem Buch wieder in einer Bar einen wahren Tanz der Teufel performen lässt. Gerade auch gegenüber der Erzählinstanz machen sich die Figuren in einem Rhythmus, der das ganze Buch trägt, selbstständig. Eine der wichtigsten Gruppen unter ihnen ist eine klebstoffschniefende Gang von Straßenkindern. Selbst ihnen, die "ihre Lumpen mit Würde tragen", winkt in dieser schönen und kaum steuerbaren Mobutu-Welt manchmal eine glorreiche Zukunft. Einer der Buben, der kaum etwas von dem hat, was man eine "soziale Prognose" nennen könnte, steigt zum Erzbischof auf. Ein anderer wird Ölmagnat, die meisten aber verkommen in dem Moment, da das Regime stürzt, zu Kindersoldaten.

Der Prosa von Fiston Mwanza Mujila wohnt eine ungeheure Vitalität inne. Figuren werden hier ganz ohne Angst, sie eventuell auch verlieren zu können, von der Leine gelassen. Es ist niemals nur eine Geschichte, die hier erzählt wird, sondern es sind immer viele Geschichten, die sich gegenseitig bedingen. Im Geflecht der erzählerischen Einzelstränge kommt es auch gar nicht auf die Schönheit größerer Ordnungsmuster an. Am schönsten und stärksten sind die Erzählteppiche nämlich dort, wo sie ausfransen und starke Eigendynamiken entwickeln.

Tatsächlich ist bei diesem Autor die Lyrik nicht von der Prosa zu trennen, denn ohne die Hervorbringungstechniken des Gedichts wäre eine solche Prosa nicht möglich. In dem Interview, das dem Gedichtband Kasala für meinen Kaku (Ritter, 2022) beigegeben ist, sagt Fiston Mwanza Mujila: "Die Lyrik ist der Antriebsriemen für mein Schreiben. Ich bin grundsätzlich Dichter, und ich weigere mich, meine Nabelschnur zu kappen, sobald ich mir den Kasack des Romanciers überziehe. Die Dichtung ist Mutter, Schwester und Großmutter der Literatur", und diese Dichtung, so ist abschließend zu ergänzen, schickt den Dichter dann auch auf eine Reise, die noch lange nicht zu Ende ist. (Klaus Kastberger, 1.7.2024)