Plötzlich fällt der Druck in der Leitung auf null, und es kommt kein Gas mehr aus Russland in Österreich an: Das ist kein theoretisches Szenario in ferner Zukunft, sondern könnte schon Anfang 2025 Realität werden. Der Durchleitungsvertrag zwischen dem ukrainischen Energieversorger Naftogaz und der russischen Gazprom wird Ende 2024 auslaufen. Die Ukrainer haben bereits mehrmals angekündigt, den Deal nicht erneuern zu wollen. Wie aber würde sich das auf die heimische Gasversorgung und die Preise auswirken? Immerhin bezieht Österreich 80 bis 90 Prozent seines Gases aus Russland. Dieser Frage ist die Österreichische Energieagentur im Auftrag des grünen Klimaministeriums nachgegangen; Unterstützung gab es vom staatlicher Energiemarktaufseher, der E-Control.

Evaluiert wurde, ob die Pipeline-Infrastruktur in Österreich und an den Grenzen ausreicht, um genügend Gas für heimische Haushalte und Unternehmen herbeizuschaffen. Die Antwort von Christoph Dolna-Gruber (Energieagentur) und Leo Lehr (E-Control) lautet: ja. Entscheidend dafür ist, ob die Gasspeicher hierzulande weiterhin befüllt werden können nach jedem Winter oder rasch leerlaufen würden.

Einst rollte hier der Rubel, inzwischen sind die Zeiten schwieriger: die Gazprom-Zentrale in St. Petersburg.
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Die Analyse zeigt, dass Österreich deutlich besser aufgestellt ist, um von russischem Gas loszukommen, als noch zu Kriegsbeginn in der Ukraine. Allerdings liegt das weniger an den Leistungen der heimischen Politiker als an externen Faktoren.

Ein Lieferstopp wäre deshalb komplex, weil Österreich ein Gastransitland ist und auch die Slowakei, Slowenien und zumindest theoretisch Ungarn mit dem in Baumgarten (NÖ) ankommenden russischen Gas versorgt werden. Österreich profitiert aber davon, dass Deutschland und Italien sich bereits weitgehend losgelöst haben von russischem Pipelinegas. Beide Länder beziehen den Rohstoff vor allem in Form von LNG (verflüssigtem Erdgas). Dazu kommt über Deutschland auch noch Gas aus Norwegen. Während beide Staaten einst mit russischem Gas über Österreich mitversorgt worden sind, stehen inzwischen umgekehrt Kapazitäten bereit, um Gas via Deutschland und Italien nach Österreich zu bekommen.

Italien baut Pipelines aus

Weitgehend unbemerkt haben die Italiener die Pipelines für Lieferungen sogar ausgeweitet und sie dem vorhandenen Pipelinenetz in Österreich angepasst. Italien bietet diese zusätzlichen Kapazitäten ab Herbst für Gashändler zum Kauf an. Mithilfe dieser zusätzlichen Mengen können über Italien und Deutschland etwa 185 Terawattstunden an Gas importieren werden. Damit könnte Österreich gut versorgt werden, heißt es in der Analyse, der Jahresverbrauch lag zuletzt um die 80 Terawattstunden. Und: Auch für das kleine Slowenien und die Slowakei wäre genügend Gas vorhanden. Bei Ungarn wurde angenommen, dass das Land wie schon in den vergangenen Monaten primär über eine andere Pipeline, die Turkstream, mit Gas aus Russland versorgt wird.

Zweiter Faktor neben diesen Routen sind die Gasspeicher: Diese sind in Österreich gut gefüllt, aktuell beträgt der Speicherstand um die 80 Prozent. Das entspricht also etwa dem heimischen Jahresverbrauch.

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Auch ohne russisches Gas wird es künftig gelingen, die heimischen Speicher wieder zu befüllen, zeigen sich Dolna-Gruber und Lehr überzeugt. Im Basisszenario, also bei einem recht milden Winter wie zuletzt, wird erwartet, dass vor der Heizsaison 2025/2026 die Speicher zu fast 90 Prozent befüllt sein werden.

Aktuell liegt der heimische Verbrauch um rund 23 Prozent unterhalb der Werte vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine. Das lag neben den milden Wintern auch daran, dass die Industrie zuletzt weniger Gas benötigte, weil die Konjunktur schwächelte. Dazu kommt, dass es mehr als 70.000 Zählpunkte weniger gibt. Hinter der Zahl stecken vor allem Haushalte, die auf andere Energiequellen gewechselt sind.

Aber gut möglich, dass der Verbrauch in einem extremen Winter trotzdem deutlich ansteigt in den kommenden zwei Jahren. Auch in diesem Fall könnte genügend Gas über die Infrastruktur angeliefert werden. Nur in einem Szenario, bei großer Kälte und dem Ausfall der Lieferungen schon über den Sommer und wenn keine zusätzlichen Lieferkapazitäten via Italien ab dem Herbst zur Verfügung stünden, würden die Speicher leerlaufen. Im Frühjahr 2026 müsste der Staat in diesem Szenario Gaszuteilungen übernehmen und die von ihm eingekaufte strategische Reserve anzapfen. Wobei immer noch genügend Gas vorhanden wäre.

Ist genügend LNG vorhanden?

Transportkapazitäten gibt es also genügend. Auch Anlandeterminals für LNG in Italien und Deutschland seien ausreichend vorhanden, ebenso gibt es laut Dolna-Gruber und Lehr genug Flüssiggas am Markt.

Schwieriger zu beurteilen ist schon die andere entscheidende Frage, nämlich wie sich ein Stopp der Lieferungen aus Russland auf die Preise auswirken würde. Zwar wird oft behauptet, russisches Gas sei so billig. Allerdings deutet alles darauf hin, dass die OMV den Rohstoff etwa zu Marktpreisen bezieht. Gehen diese Preise nach oben, zahlen auch die OMV und damit die heimischen Kunden mehr. Auf Basis von Marktanalysen erwarten Energieagentur und E-Control einen Anstieg der Preise um zehn bis 40 Prozent nach einem Lieferstopp. Aktuell zahlen Kunden am Markt etwa vier bis fünf Cent (ohne Steuern) für eine Kilowattstunde Gas. Nach einem Lieferstopp wären es um ein bis zwei Cent mehr. Das wäre keine Preisexplosion, aber eine Verteuerung.

Zur Einordnung: Im Februar hat das Klimaministerium von Leonore Gewessler (Grüne) einen Vorschlag vorgelegt, wonach erstmals heimische Energielieferanten verpflichtet werden sollen, sich von russischem Gas loszusagen. Im kommenden Winter sollen die Versorger 40 Prozent nichtrussisches Gas kaufen. Dieser Anteil soll kontinuierlich steigen, um im Winter 2027/28 schließlich 100 Prozent zu erreichen. Die Industrie wehrt sich gegen die Maßnahme, weil sie die höheren Preise fürchtet. Auch die ÖVP ist skeptisch, der Vorschlag wurde bisher nicht umgesetzt.

Da allerdings die Transportkapazitäten ausreichen, um Gas aus den Nachbarländern nach Österreich zu bringen, bliebe Österreichs Gasmarkt an den europäischen angeschlossen, sagt Dolna-Gruber von der Energieagentur. Die Preise in Österreich sollten sich mit der Zeit wieder dem Niveau von Resteuropa nähern. Und dort ist das Problem mit einem Ausfall Russlands nicht so groß, weil weniger als sieben Prozent des in die EU importierten Gases via Pipelines aus Russland kommen. Kurzum: Ein Ausstieg aus russischem Gas erscheint nach diesem Szenario gut machbar – hätte aber einen Preis. (András Szigetvari, 28.6.2024)