Der Mann hinter Marine Le Pen: RN-Chef Jordan Bardella möchte nach den Parlamentswahlen in Frankreich Premierminister werden. Sie strebt für 2027 das Amt der Staatspräsidentin an.
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Den liberalen Demokratien im freien Westen stehen dramatische Monate bevor. Die USA sind dabei ein eigenes Kapitel. Nach dem verpatzten Auftritt von US-Präsident Joe Biden im TV-Duell gegen Donald Trump droht in Washington noch mehr Radikalisierung. Eine große Mehrheit der Europäer ist einer solchen Entwicklung lange mit Unverständnis begegnet. So etwas wie das Phänomen Trump sei "bei uns" kaum denkbar. Viktor Orbán wurde lange als peinliche Ausnahme betrachtet.

Der ungarische Premier als eine Art EU-Betriebsunfall. Ärgerlich, aber durch das kleine Ungarn könne die jahrzehntelang eingeübte tolerante gemeinschaftliche Politik nicht wirklich gefährlich aus dem Tritt geraten. Die Europawahlen im Juni schienen diese Lesart auch zu bestätigen.

Europas Rechtspopulisten und extrem Rechte gewannen in einigen Ländern zwar dazu. Die gemäßigten wie traditionellen Parteien der Mitte, die den Kurs im EU-Parlament wie auch in der EU-Kommission bestimmten, konnten jedoch eine breite Mehrheit halten. Rund um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen soll eine solide Programmpartnerschaft für die Legislaturperiode bis 2029 entstehen.

Gefahr aus den Staaten

Aber leider, mit dieser Hoffnung, dass die EU als Solidargemeinschaft weitermachen kann wie bisher, könnte es bald vorbei sein. Die Gefahr geht dabei nicht von Brüssel oder Straßburg aus, sondern von den Nationalstaaten. Sehr konkret: von Frankreich. Am Sonntag wird dort das Parlament neu gewählt.

Es sieht ganz danach aus, dass die Partei des liberalen Präsidenten untergeht. Die radikale Rechte von Marine Le Pen dürfte triumphieren, vor einer von der radikalen Linken geführten Plattform. Die Folge wäre nach der Stichwahl zwei Wochen später eine von einem EU-skeptischen Premier geführte Regierung, die den Europakurs von Staatspräsident Emmanuel Macron konterkarieren würde.

Das wäre ein Donnerschlag für das gemeinsame Europa. Und auch eine böse Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet das EU-Gründerland, das vor 74 Jahren mit dem Schuman-Plan die Inspiration zur heutigen Gemeinschaft gab, der Auslöser für die schwerste Krise seit Bestehen werden könnte.

Dazu kommt: Nächste Woche tritt die neue Regierung in den Niederlanden an. Sie wird vom Rechtspopulisten Gert Wilders dominiert. Und auch wenn Giorgia Meloni in Italien bisher als Proeuropäerin auftritt, alles in allem liefe das de facto auf eine deutliche Destabilisierung der Gemeinschaft hinaus. (Thomas Mayer, 28.6.2024)