Heute ziagt der g'schupfte Ferdl frische Socken an“ – mit dieser Textzeile leitete Gerhard Bronner eines seiner bekanntesten Lieder ein und setzte sowohl sich als auch dem g'schupften Ferdl ein Denkmal. Bronner war einer der Künstler, die Mitte des 20. Jahrhunderts das Wienerlied ordentlich mitgeprägt haben. Es ist immer ein bisserl gemütlich, stets ein Alzerl humorvoll, nicht selten spöttisch und g'feanzt – und in geschätzt sieben Achteln der Fälle weinselig.

Doch was wurde aus dem musikalischen Vermächtnis von Leuten wie Helmut Qualtinger, Hans Moser, Hermann Leopoldi oder Gerhard Bronner, Vater des STANDARD-Gründers und -Herausgebers Oscar Bronner? Tut sich in der Gattung Wienerlied noch etwas – und wird beim Heurigen nach wie vor gesungen? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt sich ein Abstecher zum Stadtheurigen Hengl-Haselbrunner in Döbling. Dort, zwischen grünen Tischen und blühenden Bäumen, trifft man mit dem Duo Karl Stirner und Walther Soyka auf zwei Aushängeschilder des Genres.

Walther Soyka (li) und Karl Stirner hauchen alter Musik neues Leben ein. Sie machen wieder modern, was die Menschen im 19. Jahrhundert gern gehört haben.
Florian Sulzer

Wiener Ethnomusik beim Heurigen

Stirner spielt die in Wien fast ausgestorbene Zither, Soyka klopft die Knöpferlharmonika. Die beiden geben Musik aus der Zeit des Baus der Ringstraße rund um 1860 zum Besten. Sie selbst nennen das augenzwinkernd "Wiener Ethnomusik". Setlist im klassischen Sinn gibt es keine, vor jedem Stück machen sich die beiden lediglich die Tonart aus, der Rest wird improvisiert. Die Töne greifen ineinander, es harmoniert, es funktioniert. Selbst dann, wenn auf Gesang verzichtet wird, was untypisch ist fürs Wienerlied. Denn das lebt eigentlich von den etwas bissigen Texten.

"Es gibt schon so viele Lieder, das reicht eh", meint Stirner. "Kein Text nimmt außerdem eine psychologische Hürde, daher funktioniert unsere Musik überall." Das Publikum ist buntgemischt, eine Reisegruppe aus Oberfranken hat ihren Wien-Aufenthalt extra so gelegt, dass sie bei dem Auftritt dabei sein können. Weiter hinten sitzt eine Geschäftsfrau aus Japan, sie zeigt sich begeistert von dieser "für sie komplett neuen Musik".

Wiener Liedkunst

Tatsächlich muss man das Wienerlied heutzutage suchen. Die großen Radiosender spielen es nicht, gerade mal Ö1 liefert ab und an noch ein musikalisches Feature.

Die Organisatorin

Wiener Liedkunst Völlig textlos bleibt der Soyka-Stirner-Auftritt dann aber doch nicht, für ein Lied steigt Agnes Palmisano ins Geschehen ein. Sie ist die Gründerin des Vereins Wiener Liedkunst und dafür verantwortlich, dass bei Hengl-Haselbrunner jeden Dienstag Wienerlied-Abend ist. Musik gab es dort zwar immer schon, doch sie hat den Chef Mathias Hengl vom wöchentlichen Konzept überzeugt.

Agnes Palmisano verkörpert das Wienerlied wie kaum eine andere in der Stadt. Sie organisiert einen wöchentlichen Wienerlied-Abend beim Heurigen Hengl-Haselbrunner im 19. Bezirk. Das Duo Soyka-Stirner zählt dort zum musikalischen Inventar.
Florian Sulzer

"Die Finanzierung ist nicht einfach, aber es wäre nicht fair, wenn die Künstlerinnen und Künstler gratis spielen. Wer spielt, kriegt 100 Euro fix, für den Rest der Gage gehe ich mit dem Hut durch. Da kommt schon eine brauchbare Summe zusammen", erzählt Palmisano. Die Nachfrage nehme zu. Anfangs habe sie die Künstler bitten müssen, mittlerweile kämen immer mehr Anfragen von Künstlern, die spielen wollen. Generell nehme die Popularität des Wienerlied-Genres wieder zu. "Die Szene ist viel größer als vor 20 Jahren, als ich begonnen habe", meint sie.

Wienerlied an der Uni

Die steigende Beliebtheit dürfte auch damit zu tun haben, dass das Wienerlied mittlerweile an beiden Musikunis als Wahlfach angeboten wird. Palmisano unterrichtet an der Musik und Kunst Universität (MUK). "Das Spannendste ist es, Leuten beizubringen, wie man den Dialekt einsetzt. Ich kenne Schauspielstudentinnen und -studenten, die Sprechtraining ohne Ende haben, aber sich mit dem Dialekt fürs Wienerlied extrem plagen." Es gehe um Phrasierung, Betonung, Sprachmelodie, man müsse sich schon intensiv mit der Materie beschäftigen und viele Lieder hören, um ein G’fühl zu bekommen.

Dass dieses Gefühl viele haben, zeigt die Liste an Bands und auch Solokünstlern, die dem Genre neues Leben eingehaucht haben. Das geht weit über die A-Promis wie Ernst Molden, Nino aus Wien, Tini Kainrath oder Voodoo Jürgens hinaus. Bands wie die Strottern, 16er Buam, Kollegium Kalksburg oder Wiener Blond leben die Wiener Seele in ihren Liedern aus. Wiener Blond beispielsweise attestiert Wien, der "letzte Kaiser" zu sein; die Stadt goschert und flexibel wie ein Fließbandgerät.

Die Schönheit der Stadt, das goldene Wiener Herz und besonders der Wein - das sind beliebte Themen im Wienerlied. Landläufig herrscht zudem der Glaube, dass der Tod viel und oft besungen werde. "Das ist vollkommener Blödsinn", sagt der Chef des Wiener Volksliedwerks, Herbert Zotti. "Dieser Irrglaube geht wohl auf Georg Kreislers Lied Der Tod, das muss ein Wiener sein zurück. Um den Tod geht es jedenfalls selten, um Wein dafür umso öfter." Es gebe rund 70.000 Wienerlieder, und bestimmt 70 Prozent davon würden sich um den Wein drehen.

Matthias Hengl gibt Künstlerinnen und Künstlern bei seinem Heurigen wöchentlich eine Bühne. Die Leidenschaft und Liebe zur Musik hört man in jedem seiner Worte.
Florian Sulzer

Ab 40 wird es interessant

Dass sich wieder mehr junge Leute für diese Musikgattung interessieren, freut Zotti. Er beobachte dennoch, dass die meisten Menschen erst ab 40 wirklichen Gefallen am Wienerlied finden. Bei der Generation 60 plus sei es sogar ziemlich hoch im Kurs.

Dass beim Heurigen selbstverständlich live musiziert und gesungen wird, so wie es früher war, hat sich mittlerweile aber dennoch völlig aufgehört. "Wirte erhoffen sich nichts davon, und Einheimische wollen das nicht mehr", sagt Zotti.

Live beim Heurigen

Wer genau schaut, findet die Heurigenmusik aber nach wie vor - sogar in jenem altbekannten Stil, wo Sänger von Tisch zu Tisch ziehen und ihr Repertoire zum Besten geben. Ein Ort dafür ist etwa das Buchenbeisl in Favoriten. Livemusik gibt es aber auch beim Mayer am Pfarrplatz (Döbling) oder beim Heurigen Zur Blauen Nos’n (Ottakring). Zudem veranstaltet das Wiener Volksliedwerk jährlich das Wean-Hean-Festival und regelmäßige offene Singabende - da kann kommen, wer möchte, und mit Gleichgesinnten munter drauflosträllern.

Wiener Blond

Über die Jahre hat sich das Wienerlied immer wieder neu erfunden durch Einflüsse aus dem Blues oder Jazz. Der Kern blieb jedoch stets erhalten. Die Musik ist mal langsamer, mal schneller, folgt auch keiner fix vorgegebenen Rhytmusstruktur. Eine zentrale Rolle spielt der Dreivierteltakt, aber auch der Vierviertel- oder Sechsachteltakt kommt vor. Das Wienerlied ist sozusagen auch ein Abbild der Zeit, ebenso wie die Stadt selbst. Der letzte Kaiser in Liedform sozusagen. (Andreas Danzer, 4.7.2024)