Wien – Der österreichische Presserat hält es grundsätzlich für medienethisch legitim, die charakterliche Eignung von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern zu thematisieren. Es ist und war zulässig, über "fragwürdige schwerwiegende Behauptungen", die Lena Schilling, die EU-Spitzenkandidatin der Grünen, über Mitstreiterinnen und Journalisten verbreitet, zu berichten. Zu diesem Schluss kommt das Selbstkontrollorgan der Branche in seiner am Freitag veröffentlichten Entscheidung. Der Presserat sieht in der Causa allerdings auch zwei Verstöße gegen den Ehrenkodex der österreichischen Presse. Konkret geht es um die Punkte 2.1 (gewissenhafte und korrekte Wiedergabe von Nachrichten) sowie 2.2 (anonyme Zitierungen).

Lena Schilling.
Lena Schilling.
REUTERS/Lisa Leutner

In dem Artikel wird berichtet, dass Lena Schilling, über mehrere Personen in ihrem Freundeskreis wie auch im politischen Umfeld schwerwiegende Gerüchte und Unwahrheiten verbreitet habe. So habe sich Schilling über eine angebliche Fehlgeburt einer Freundin infolge häuslicher Gewalt ohne Beleg dafür geäußert. DER STANDARD verweist auf eine vor Gericht vereinbarte Unterlassungserklärung. Zudem soll Schilling auch Gerüchte über zwei Journalisten verbreitet haben: Einem privaten TV-Journalisten habe sie zu Unrecht Belästigungen vorgeworfen, mit einem anderen Journalisten habe Schilling eine Affäre erfunden und ihm auch Affären mit anderen Grünen-Politikerinnen angedichtet.

Anonymisierung aufgrund von möglichen Konsequenzen

Der Artikel sei sorgfältig recherchiert worden, die Berichterstattung auch rechtlich durch Erklärungen der Auskunftspersonen abgesichert. Dennoch hätte DER STANDARD auf anonyme Zitate verzichten müssen, sofern diese lediglich Werturteile zu Lena Schilling enthalten und kein Bezug zu konkreten Ereignissen vorgenommen wurde, moniert der Presserat, der nach Beschwerden von Leserinnen und Lesern tätig geworden ist. Die Zitate seien deshalb anonymisiert worden, weil die Informantinnen und Informanten andernfalls negative Konsequenzen zu befürchten gehabt hätten, argumentierte DER STANDARD.

Überhaupt seien Zitate zu persönlichen oder charakterlichen Eigenschaften der Betroffenen nur zulässig, wenn die Zitierten bereit seien, mit ihrem Namen zu den Zitaten zu stehen; hier zieht der Senat des Presserats nach eigener Aussage bewusst eine neue, harte Linie, um "anonymen Heckenschützen" in der politischen Auseinandersetzung vorzubeugen.

Journalistische Sorgfaltspflicht

Aus dem öffentlichen Interesse an einem konkreten Sachverhalt ergebe sich allerdings nicht, dass dabei die journalistische Sorgfaltspflicht außer Acht gelassen werden dürfe, so der Presserat. Im vorliegenden Fall betreffe ein Großteil der eingeholten Auskünfte offenbar Personen aus dem politischen Umfeld Schillings.

Dem Senat erscheine es naheliegend, dass Informantinnen und Informanten aus diesem Umfeld eigene Interessen verfolgen könnten und somit ihre Sichtweise tendenziell subjektiv geprägt sei, etwa aus Konkurrenzgründen oder aufgrund persönlicher Zerwürfnisse, heißt es. Nach Auffassung des Senats hätte es eine ausgewogene beziehungsweise faire Vorgehensweise im Sinne von Punkt 2.1 des Ehrenkodex erfordert, die Meinungen und Werturteile mit konkreten Sachverhalten in Bezug zu bringen. Ohne die spezifischen Ereignisse, auf denen die Wertungen beruhen, könnten sich die Leserinnen und Leser kein umfassendes eigenes Bild machen, begründet der Presserat seine Entscheidung.

Keine Verletzung des Persönlichkeitsschutzes

"Die Entscheidung des Presserats stellt klar, dass es aus medienethischer Perspektive zulässig ist und bleibt, die charakterliche Eignung von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern im Rahmen medialer Berichterstattung infrage zu stellen. Ausdrücklich hält der Presserat daher fest, dass über schwerwiegende Vorwürfe gegen Lena Schilling berichtet werden durfte. Der Presserat sieht auch keine Verletzung des Persönlichkeitsschutzes oder der Intimsphäre der Lena Schilling durch den Bericht; die von den Grünen herangezogene Argumentation, hier werde in die Privatsphäre einer jungen Frau eingegriffen, ist daher haltlos. Ebenso betont der Presserat, dass die Grundsätze der ordentlichen Recherche beachtet worden sind. Kritik übt die Entscheidung daher ausschließlich an der anonymisierten Wiedergabe von solchen Zitaten, die nur subjektive Wertungen über den Charakter von Lena Schilling beinhalteten", resümiert Anwalt Michael Pilz, der den STANDARD vertritt. (red, 28.6.2024)