Ein Mutter halt die Hand ihres Kindes.
"Mutterliebe" wurde im Duden bis vor ein paar Jahren als "aufopfernd" definiert. Vaterliebe hingegen nicht.
IMAGO/Zoonar II

Langsam müsste doch wirklich mal Schluss sein mit dieser aufgeblasenen, Frauen zwangsverpflichtenden Übergriffigkeit namens Mutterliebe. Aber die Vorstellung von der Mutterliebe als natürliches, unausweichliches Gefühl hält sich trotz aller Aufklärungsbemühungen mehr als hartnäckig in den Köpfen und Herzen der Menschen. Dabei hat die französische Philosophin Elisabeth Badinter schon vor über 40 Jahren die Geschichte und Genese dieses Gefühls herausgearbeitet. Am Beispiel Frankreichs weist sie nach, wie im Laufe des 18. Jahrhunderts aus wirtschaftspolitischen und machtspezifischen Gründen die Idee einer angeborenen spontanen Liebe von Müttern zu ihren Kindern Gestalt annimmt und sich im Laufe der Zeit zu einer gnadenlosen Geißel verordneter Selbstaufopferung und unverbrüchlicher Liebe auswächst.

Mutterliebe wurde fortan nicht nur als zu begleichende Schuld von Müttern gegenüber ihren Kindern definiert, sondern auch von Frauen gegenüber der Gesellschaft. Nach dieser Vorstellung schulden Frauen der Gesellschaft Kinder, und sie sind es ihr auch schuldig, sich um diese Kinder zu kümmern. Nicht nur als Mutter, sondern durch geschlechtsspezifische Vereinnahmung auch als weibliche Angehörige, Erzieherin, Lehrerin, Nachbarin, Freundin. Wegen Natur und "dem allem" gelten Kinder eben als Frauensache. Und obwohl die Kritik an dieser Idee seit Badinter nicht abreißt, sondern noch an Fahrt aufnimmt und an Deutlichkeit gewinnt, steht sie wie ein Untoter immer noch in unserer Gegenwart herum und behelligt insbesondere Frauen, die einfach nur ihr Leben leben wollen – mit oder ohne Kinder.

"Von Natur aus"

Denn dass "die Uhr nicht tickt" und Frauen für ein glückliches und erfülltes Leben nicht zwangsläufig Kinder beziehungsweise Mutterschaft benötigen, könnte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Auch dass Mütter ihre Mutterschaft nicht durchgehend als freudespendendes, strahlendes Ereignis wahrnehmen, sondern an ihr durchaus leiden und sie bereuen können, sollte man inzwischen wissen. Ein Satz wie jener der österreichischen Aktivistin Wiebke Schenter darüber, dass sie ihre Kinder zwar liebt, aber nicht gerne Mutter ist, sollte eigentlich kaum bis keine Irritationen hervorrufen.

Insbesondere mit Blick auf die zahlreichen Nachteile und den Katalog an nicht enden wollenden Forderungen, den Frauen zu erfüllen haben, um nicht als schlechte Mutter zu gelten. Trotzdem wird am Mythos der Mutterliebe weitererzählt. Frauen werden in die Pflicht genommen und Kinder an ihre Mütter verwiesen. Zum Beispiel, wenn der Psychiater Michael Schulte-Markwort im Gespräch mit einer Journalistin, die sich mit ihrer eigenen Mutterrolle beschäftigt, wie nebenbei fallen lässt, Mütter seien aufgrund der engen, schon im Mutterleib entstandenen Bindung an ihre Kinder einfach von Natur aus viel sensibler und näher an ihren Kindern als ihre Männer.

Überwachung in Sachen Mutterschaft

Um hier bei meiner Liebe zum Detail zu bleiben und das unmissverständlich klarzustellen: Es sind nicht nur Männer, die Frauen auf die Mutterrolle reduzieren, und Frauen, die dagegen anschreiben und -kämpfen. Im Gegenteil: Frauen überwachen andere Frauen in Sachen Mutterschaft oft aufs Schärfste. Sie kommentieren deren Verhalten, urteilen, werten ab. Und sie bestehen auf Mutterschaft und Mutterliebe als naturgegebene Bestimmung. Mit welcher Vehemenz das geschieht, durfte ich 2016 erleben. Damals habe ich mich mit dem Duden-Verlag darüber gestritten, dass sie Mutterliebe als "fürsorgliche, opferbereite Liebe einer Mutter zu ihrem Kind" definierten und Vaterliebe schlicht als "Liebe eines Vaters zu seinem Kind".

Ich fand und finde es hochproblematisch, Menschen aufgrund von Geschlecht sprachlich zwangszuverpflichten, fürsorglich und opferbereit zu lieben, während man anderen Menschen genau das ebenfalls qua Geschlecht einfach abspricht: Sie muss immer so lieben, er ist dazu niemals in der Lage. Irgendwann hatte ich den Duden-Verlag überzeugt und eine Änderung erwirkt: Mutterliebe ist inzwischen auch "nur" als "Liebe einer Mutter zu ihrem Kind" definiert. Die Zuschriften, die ich daraufhin auch und gerade von Frauen erhielt, waren zahlreich und oft stinkwütend. Mütter schrieben mir, dass sie ihre Kinder nun einmal fürsorglich und opferbereit liebten und was ich mir als Mann einbilden würde, das einfach wegdefinieren zu lassen. Aber das tat und das tue ich nicht.

Existenzielle Geschlechtspflicht

Wir lieben alle qualifiziert, situationsabhängig und individuell. Manchmal mit aller und manchmal mit letzter Kraft. Manchmal fürsorglich und opferbereit und manchmal vollkommen erschöpft, gestresst und am Ende. Manchmal alles gleichzeitig und manchmal auch überhaupt nicht. Liebe hat kein Geschlecht.

Und eine Sache noch, bevor Männer hier noch anfangen, sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, weil Frauen sich untereinander dafür fertigmachen, eine schlechte Mutter zu sein. Oder weil sie auf Instagram Tradwifes (traditional wifes) folgen, die ihnen ein schlechtes Gewissen dafür machen, dass das Frühstück für ihre Kinder nicht auch handverlesen und mundgeklöppelt ist: Frauen über Jahrhunderte in die Rolle der Hausfrau und Mutter zu zwingen und sich anschließend scheinheilig darüber zu wundern, dass sie sich genau über diese angeblich existenzielle Geschlechtspflicht definieren, sich abgrenzen, hervortun und auszeichnen wollen, ist nichts, worauf Mann stolz sein kann. Das ist ungefähr so angebracht, wie Überraschung angesichts der Tatsache zu heucheln, dass Männer sich durch körperliche Überlegenheit hervortun wollen.

Nämlich gar nicht. (Nils Pickert, 4.7.2024)