Ungarn ist für Österreich nicht nur historisch ein besonderer Nachbar. Seit Jahren strahlt Viktor Orbán mächtig in die hiesige Innenpolitik ab, vor allem wenn es um das Thema Migration geht. Die FPÖ preist den Machtmenschen aus Budapest regelmäßig, der Kanzler-Aspirant Herbert Kickl will ihm nacheifern. Denn Orbán wettert in Sachen Migration nicht nur regelmäßig gegen die EU. Und er brüstet sich, dass es in Ungarn in den letzten Jahren nur ein paar Dutzend Asylanträge gebe.

Andreas Babler bei einer Pressekonferenz in Wien.
APA/ALEX HALADA

Warum diese Zahl tatsächlich so klein ausfällt und die Migrantenzahl in Österreich so groß, das ist bekannt – diskutiert wird es bislang kaum.

Fakt ist: Ein Großteil der in die rot-weiß-rote Republik irregulär eingereisten Menschen kam in den letzten Jahren wegen der ungarischen Zustände.

2023 erließ der Ministerpräsident sogar eine Verordnung, die hunderte verurteilte Schlepper aus den Gefängnissen befreite – ein Akt, den sogar die FPÖ kritisierte. Im Jahr zuvor, als in Österreich mehr als 100.000 illegal Eingereiste gezählt wurden, kamen mehr als 90 Prozent aus Orbáns Reich.

Der Grund: Die ungarischen Beamten winken Zigtausende durch in Richtung Burgenland. Damit missachtet Orbáns Team europäisches Recht: Ungarn müsste als das für die Neuankömmlinge erste EU-Land ebendiese registrieren und im Land behalten. So regelt es das auch von Ungarn unterzeichnete Dublin-II-Abkommen. Doch dann wären die Migrantenzahlen in Ungarn hoch (und die in anderen Ländern wie Österreich niedrig), was Orbáns markige Sprüche auch bei seiner Klientel als Märchen entlarven würde.

Für Österreich bedeutet diese Realität folglich: Ungarns Premier ist gerade in Sachen Migration kein Problemlöser – er ist ein Problemvergrößerer.

Deshalb ist der Vorstoß von Andreas Babler richtig: Der SPÖ-Obmann möchte klagen, weil Ungarn seine Verpflichtungen eben nicht einhält. Wer die Zahl der Migranten senken will, muss auch dort ansetzen. Es muss einen Paradigmenwechsel geben, das hat der Ober-Rote erkannt. Es ist eine unangenehme Wahrheit, die seinen sonst so wortgewaltigen innerparteilichen Kritikern im Burgenland und in Tirol bislang nicht über die Lippen gekommen ist. Über Ungarn verhängte der Europäische Gerichtshof unlängst ohnehin eine drastische Strafe, weil sich Orbáns Regierung bislang weigert, höchstrichterliche Entscheidungen bezüglich der Asylpolitik umzusetzen.

Ausländische Firmen drangsaliert

Gegenhalten statt Wegducken, wenn es um Orbáns destruktive Auswüchse geht: Solch ein Schritt wäre auch im Kanzleramt überfällig, denn neben dem Reizthema Migration schwelen noch weitere Konflikte mit Budapest. Orbán verachtet offen liberale Länder wie Österreich und geriert sich wie ein fleischgewordener Brückenkopf des Kreml mitten in der EU. Auch ökonomisch wirkt sich die von Orbán ausgerufene "Ungarisierung" hochproblematisch aus: Die Administration Orbáns mobbt systematisch Firmen aus Österreich, aber auch Unternehmen aus Deutschland und der Schweiz.

Karl Nehammer versuchte, Orbán einzuhegen, indem er ihn politisch umarmte. Dass der Kanzler zunächst im Konsens dauerhafte Lösungen im Migrationsbereich finden wollte, war so ehrenwert wie erfolglos. Es künftig mit Hofieren und warmen Worten zu probieren wäre allerdings naiv. Die Erfahrung zeigt: Wenn der Ungarn-Premier einlenkt, dann oft nur über erheblichen Druck. Etwa, wenn er um (auch von österreichischen Steuerzahlern finanzierte) üppige Milliardenbeiträge aus Brüssel fürchtet, die seine Regierung kassiert.

Österreich will Ungarn ein guter Nachbar auf Augenhöhe sein. Ob Orbán das umgekehrt auch will, darf bezweifelt werden. (Oliver Das Gupta, 28.6.2024)