James Potter (hinten Mitte) und Walt Disco und ihre wirklich sehr queere Popmusik bringen mit schmaler Brust große Theatralik auf die Bühne. Liveshows sollen nicht immer jugendfrei sein.
James Potter (hinten Mitte) und Walt Disco und ihre wirklich sehr queere Popmusik bringen mit schmaler Brust große Theatralik auf die Bühne. Liveshows sollen nicht immer jugendfrei sein.
Lucky Number Records

Walt Disco haben sich nicht nur einen liebenswert blöden Bandnamen ausgesucht. Angesichts ihres neuen Albums The Warping kann man sich auch viele Fragen stellen, die passenden Antworten suchen – und dadurch natürlich am Ende auch gescheiter werden. Angesichts des Instrumental-Intros Seed zum Beispiel kann man sich aus der sicheren Ferne fragen, ob Operetten und Musicals eigentlich auch, so wie ihre große Schwester die Oper, eine Ouvertüre aufbieten können. Die Antwort lautet: Ja! Besonders beliebt ist hier, etwa in Die Fledermaus oder in Tanz der Vampire, die Potpourri-Ouvertüre. Sie nimmt die wichtigsten Melodien der Operette sozusagen in einem "Stars on 45"-Medley vorweg.

Bei "Stars on 45" handelte es sich Anfang der 1980er-Jahre um ein niederländisches Projekt, in dem etwa Songs der Beatles oder von Abba im Schnelldurchlauf von namenlosen Studiomuckern über Discobeats jeweils an-, aber nicht durchgespielt und schließlich auf Seven-Inch-Single gepresst wurden. Das Vinyl im Kleinformat lief früher meist mit 45 Umdrehungen pro Minute. Wieder etwas gelernt!

Ein Billigsdorferidyll

Walt Disco aus dem schottischen Glasgow weisen also auf ihrem Album The Warping nicht nur eine bald brutal abgewürgte Ouvertüre mit einem Bläsersatz aus dem Blechtrottel vor. Bei der geht hinten über der auf Pappe gemalten Naturidylle eines Zauberreichs aus einem Walt-Disney-Musical grad die Sonne auf. Her mit der Billigsdorfertrompete, Großes steht bevor! Schnitt.

WALT DISCO

James Potter hat früher einmal Gesangsstunden bei einem ausgebildeten Opernsänger genommen. Mit seinem dunkel und tragödisch geknödelten Bariton hat er sich dann aber doch eher für das Musical als angloamerikanische Entsprechung der Operette entschieden. Es klingt so, als würden Boomer-Held Jarvis Cocker von Pulp (Common People) oder der ursprünglich vom Broadway-Musical kommende Poptragöde Scott Walker (The Sun Ain't Gonna Shine (Anymore)) am Morbus Spargeltarzan leiden und dringend einen Aufenthalt in einem Luftkurort benötigen.

Gartenzwerge auf dem Rasen

Im ersten richtigen Song des Albums kommen unter dem entsprechenden Titel Gnomes nicht nur in so eine trügerische Idylle passende Gartenzwerge auf dem Kunstrasen vor dem Häuschen der Entfremdung vor. James Potter liebt natürlich auch die Talking Heads und deren Verstörungsklassiker Once in a Lifetime: "And you may find yourself in a beautiful house, with a beautiful wife/ And you may ask yourself, ,Well, how did I get here?'" Er gibt in Gnomes einen mit seinem Leben, dem Alter, dem Karriereende auf der Bühne und auch mit seinem Liebsten hadernden, leicht lächerlichen Best-Ager: "Oh we had it all and lived our lovely home/ With our garden gnomes but it was all show/ Just like the broadway goes/ So I told you so and let you go/ I had to know!" Tragödien tragen es ja auch in sich, dass sie im Bedarfsfall rasch zu einer Schmierenkomödie umgebaut werden können.

WaltDiscoVEVO

Musikalisch und stimmlich geht es in der stilistisch zwischen Walzer, Seventiesrock und new-wavigen Schulterpolsterpop aus den 1980ern ordentlich klotzenden Minioper Gnomes ebenfalls zurück in eine vergangene Zeit. Aus der zieht James Potter für seine überkandidelte, sehr, sehr queere Welt des zeitgenössischen Singspiels für eine eilige Jugend sein Herzblut gierig wie ein Vampir. Neben der ebenfalls aus Glasgow kommenden, heute fast vergessenen, kapriziöse Arbeiterklasse-Chansons vortragenden Glamrock-Truppe The Sensational Alex Harvey Band von Anfang der 1970er-Jahre hört man bei Walt Disco auch andere Einsager. Ebenfalls aus Glasgow stammt etwa der Post-Punk-Zwischenschritt mit Orange Juice und deren ebenfalls gern im Bariton knödelnden Köpfen Edwyn Collins und Paul Quinn aus den frühen 1980er-Jahren sowie, aktueller aus den frühen Nullerjahren, die ebenfalls gern in die New-Wave-Zeit schielenden Indierocker Franz Ferdinand.

Franz Ferdinand wiederum haben 2015 gemeinsam mit den Sparks ein Album aufgenommen, das eines beweist: Um die wilde Mischung aus Indierock und den seit einem halben Jahrhundert den seligen Glamrock etwa von Roxy Music und später von The Associates mit Oper und Operette, Musical, Disco, New Wave und überhaupt allem zusammenführenden Sparks muss man sich keine Sorgen machen. Es gibt ja jetzt Walt Disco.

WaltDiscoVEVO

Im an Gnomes anschließenden Lied Come Undone gibt sich dann James Potter etwas rescher. Über einem Discobeat vom Diskonter fordert er einen nächtlichen Aufriss auf, ihn so lange zu rammeln, bis er eine rote Birne bekommt. Von der herzzerreißenden Vampirballade Jocelyn, dem David-Bowie-Tribut The Captain, oder: in welchem Lied man den Kyoto Song von The Cure heraushören kann, ein anderes Mal. Walt Disco und The Warping, die beste Geschichtsstunde, die das Jahr zu bieten hat! (Christian Schachinger, 29.6.2024)