Der Boeing-Konzern kämpft auch ein halbes Jahr nach der schweren Panne eines Alaska-Airlines-Flugzeugs mit seiner geschäftlichen Reiseflughöhe. Damals, Anfang Jänner, flog ein Teil der Kabinenwand aus einer fast neuen Boeing 737 Max 9, bei größerer Flughöhe hätten Passagiere aus der Maschine gesaugt werden können. Die Fluglinie hat nun die Unglücksmaschine an Boeing zurückgegeben. Zudem gab es zuletzt weitere Meldungen über technische Probleme – obwohl der US-Konzern Besserung gelobt hatte.

Eine Boeing 787 von Thai Airways bei der Landung in Wien.
Eine Boeing 787 von Thai Airways bei der Landung in Wien: Im Februar gab die Fluglinie bekannt, 45 Stück dieser sogenannten Dreamliner bestellt zu haben, und setzt so die Partnerschaft mit dem US-Konzern fort.
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Zugleich liegt der Auftragsbestand des Flugzeugbauers laut einem offiziellen Boeing-Bericht fürs erste Quartal bei 5600 Flugzeugen. Mit anderen Worten: Die Fluglinien wollen mehr Boeings kaufen, als sie bekommen. Qualitätsmängel auf der einen Seite, volle Auftragsbücher auf der anderen: Wie lässt sich das erklären?

Zunächst muss man wissen, dass der Weltmarkt für Flugzeuge heute nur noch von zwei Konzernen dominiert wird: Airbus aus Europa und eben Boeing aus den USA. Brasiliens Embraer und Chinas Comac spielen eine untergeordnete Rolle.

Fluglinien wollen Wettbewerb

Der deutsche Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt nennt im Gespräch mit dem STANDARD zwei Gründe, warum Boeings bei den Fluggesellschaften gefragt bleiben. "Zum einen gibt es Boeing-Produkte, die besser oder gleichauf mit Airbus-Maschinen sind. Dazu gehört übrigens auch die Boeing 737", sagt der Experte mit Blick auf den vielfach kritisierten Flieger. Zum Zweiten habe es strategische Vorteile für Fluglinien, sowohl bei Airbus als auch bei Boeing Kunde zu sein. "Die Fluggesellschaften wollen Wettbewerb. Das Schlimmste wäre für sie, wenn alle von einem Hersteller abhängig wären", sagt Großbongardt.

Beispiel Austrian Airlines (AUA): Die österreichische Lufthansa-Tochter hat neben Airbus-Maschinen und Embraers auch Boeings in ihrer Flotte. Die Produktion aller Flugzeuge werde "mit eigenem Personal bei den Herstellern vor Ort überwacht und begleitet", heißt es von der AUA auf Anfrage. Alle AUA-Maschinen würden zudem in "zahlreichen Prozessen" auf eventuelle Mängel geprüft, "noch bevor sie auftreten können". Die Boeings heuer aus Sicherheitsgründen vorübergehend nicht abheben zu lassen sei daher "keine Überlegung" gewesen.

Carsten Spohr bei der Präsentation der Lufthansa-Konzernergebnisse im März 2023
Lufthansa-Chef Carsten Spohr über die Boeing-Krise: "Die Branche braucht zwei starke Anbieter. Jeder hat ein Interesse daran, dass Boeing bald wieder verlässlicher tolle Flugzeuge bauen wird."
APA/AFP/DANIEL ROLAND

Airlines machen "richtig Druck"

Anfragen des STANDARD an Ryanair und Tuifly, ob man aufgrund der Boeing-Qualitätsprobleme künftig stärker oder gar ausschließlich bei Airbus kaufen wolle, blieben unterdessen unbeantwortet. Im Mai übte Lufthansa-Chef Carsten Spohr jedenfalls unverblümt Kritik am US-Konzern. Boeings verspätete Lieferungen seien "extrem ärgerlich" und kosteten "uns viel, viel Geld", sagt er in der Neuen Zürcher Zeitung. Experte Großbongardt beschreibt die Stimmung so: "Die Fluggesellschaften, die Boeing kaufen, machen richtig Druck beim Konzern. Sie sagen: Wir wollen eure Produkte, aber vernünftige Produkte."

Boeing kauft nun den Zulieferer Spirit Aerosystems zurück, wie am Montag bekannt geworden ist. Dafür zahlen die Amerikaner rund 7,8 Milliarden Euro. Mit dem Investment will der Flugzeugbauer wieder mehr Kontrolle über seine Fertigung bekommen und seine Qualitätsprobleme in den Griff kriegen.

Volle Bücher, fehlende Teile

Airbus allein kann den Bedarf an Flugzeugen jedenfalls nicht decken. In diesem Jahr werden wohl nur rund 770 statt der geplanten 800 Flugzeuge ausgeliefert werden können, meldete der europäische Konzern kürzlich. Die Auftragsbücher sind zwar voll: Zum Ende des ersten Quartals meldete Airbus einen Rückstau bestellter, aber noch nicht ausgelieferter Flugzeuge von 8626 Stück. Aber der Konzern kann die Produktion nicht beliebig hochfahren. "Es fehlen bei allen Fachkräfte", sagte Christian Scherer, Chef der Zivilsparte von Airbus, in der Wirtschaftswoche mit Blick auf die Zulieferer. Erfahrene Leute seien in der Pandemie in andere Industrien gewechselt und nicht zurückgekehrt.

Eine gute Nachricht für den Klimaschutz ist Boeings Schwäche auch nicht. Denn die Modernisierung der Flotte gilt bei Lufthansa und deren Töchtern wie der AUA als einer von drei Hebeln zum Reduzieren von CO2-Emissionen. Je länger das neue Fluggerät mit weniger Kerosinverbrauch auf sich warten lässt, umso langsamer kommt die Lufthansa hier voran. (Lukas Kapeller, 1.7.2024)