Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat Anfang Juni Neuwahlen des Parlaments verkündet, nachdem sein Mitte-Lager bei der Europawahl eine schwere Schlappe erlitten hatte. Womöglich wollte der Staatschef die rundum dominierende Rivalin Marine Le Pen mit einer nur dreiwöchigen Wahlkampagne überrumpeln. Dieser Plan ist wohl misslungen: In den letzten Meinungsumfragen vor der ersten Wahlrunde am kommenden Sonntag liegt Le Pens Rassemblement National (RN) mit 36 Prozent der Stimmen klar vorne. Im Nacken sitzt ihr nicht etwa Macrons Partei Renaissance (21 Prozent), sondern die Neue Volksfront aller linken und grünen Parteien (29 Prozent). Entscheidend dürfte sein, wer im zweiten Wahlgang am 7. Juli von den Stimmen der ausgeschiedenen Republikaner und Sozialdemokraten profitieren wird. Das eröffnet mehrere Möglichkeiten.

Marine Le Pen steht vor einem Wahlsieg.
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1 – Le Pen gewinnt die absolute Mehrheit: Wenn Le Pens Partei RN dank des Mehrheitswahlrechts in den 577 Wahlkreisen die absolute Mehrheit von 289 Sitzen gewinnt, muss Präsident Macron sie wohl oder übel mit der Regierung betrauen. Frankreich würde damit wie zuletzt 1997 eine Cohabitation zwischen einem Präsidenten und einem Premier unterschiedlicher Lager erhalten. Le Pen will dieses letztere Amt nicht selber ausüben, sondern 2027 Staatspräsidentin werden. Anwärter auf den Premier-Posten ist ihr erst 28-jähriger Vize Jordan Bardella. Er ist in seinem Lager sehr beliebt, aber politisch unerfahren. Als Erstes würde er die Energiepreise deckeln, um den Landbewohnern das Autofahren und Heizen zu verbilligen. Zudem würde seine Regierung Mindeststrafen für gewisse Gewaltdelikte festlegen. Gewichtige Entscheidungen wie etwa die Abschaffung von Macrons Pensionsreform will Bardella auf später vertagen, um die politische Lage im Griff zu behalten. Die Lepenisten wissen auch, dass ihr Machtantritt heftige Proteste der Linken und Widerstände im Staatsapparat bewirken würde.

Ohne absolute Mandatsmehrheit will Le Pens RN nicht regieren.
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2 – Le Pen liegt vorne, verpasst aber die Mehrheit: Laut Berechnungen diverser Politikinstitute ist dies das wahrscheinlichste Szenario: Le Pens RN erhält die meisten Stimmen, verfehlt aber in der Nationalversammlung die absolute Mehrheit von 289 Sitzen. Bardella hat bereits klargemacht, dass er das Amt des Premiers in diesem Fall ablehnen würde, da er ohne Mehrheit nicht regieren könne. Präsident Macron ist von der Verfassung her frei, als Premier die ihm gelegene Person zu ernennen. In den drei bisherigen Cohabitations hatten die Präsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac stets den jeweils siegreichen Oppositionschef bestimmt. Wenn Le Pen und Bardella die Ernennung ablehnen, könnte Macron versuchen, mit den übrigen Parteien eine Art Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Politisch hielte ein solches Zweckbündnis von Macronisten bis Linksradikalen aber nicht lange. Um eine politische Blockade zu vermeiden, könnte Macron auch eine Regierung aus Technokraten und Experten bilden. Sie würde aber von den beiden wichtigsten Kräften links und rechts außen als zu "macronistisch" abgelehnt. Faktisch könnte sie keine Gesetze durchbringen.

Jean-Luc Mélenchon gibt mit seiner Links-außen-Partei im linken Zusammenschluss den Ton an.
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3 – Die linke Volksfront gewinnt: Die linke Volksfront könnte die Wahl im Schlussspurt gewinnen, weil die Blitzkampagne die mangelnde Befähigung der Lepenisten entlarvt hat. Die moderaten und radikalen Kräfte haben sich aber bisher nicht einmal auf einen offiziellen Namen einigen können. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, dessen "Unbeugsame" in der Volksfront den Ton angeben, hat zwar seine Kandidatur erklärt; er stößt aber bei den anderen Parteien und sogar in den eigenen Reihen auf vehemente Ablehnung. Der Listenchef der bei der Europawahl erfolgreichen Sozialdemokraten, Raphaël Glucksmann, kann nicht mit Mélenchon. Als Kompromissfigur böte sich der ehemalige Vorsteher der einst christlich-sozialen Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, an. Er liegt aber mit Macron über Kreuz, da er gegen dessen Pensionsreform mobilisiert hatte.

Käme die Volksfront an die Macht, würde sie den Mindestlohn um 200 Euro erhöhen, die Gehälter an die Teuerung koppeln und die Energiepreise staatlich einfrieren. Sie würde auch Macrons Pensionsreform zurücknehmen. Die Pariser Börse hat allein schon wegen der Aussicht auf einen Machtantritt der Mélenchonisten heftig ausgeschlagen – nach unten.

Emmanuel Macron warnte vor einem Bürgerkrieg zwischen Rechts- und Linksextremisten.
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4 – Macron tritt zurück: Der seit 2017 amtierende Präsident hat zwar ausdrücklich ausgeschlossen, dass er im Fall einer unlösbaren Blockade selber zurücktreten und neue Präsidentschaftswahlen auslösen würde. Im Gegenteil hat er sich in den aktuellen Wahlkampf eingeschaltet. Er warnte vor einem "Bürgerkrieg", wenn die Rechts- oder Linksextremen – gemeint sind Mélenchons Unbeugsame – an die Macht kämen. Verliert er aber auch die Parlamentswahl klar, käme der Rücktritt des sehr unpopulären Staatschefs unweigerlich aufs Tapet.

In der Fünften Republik gab es bisher nur eine Demission eines Präsidenten: Charles de Gaulle nahm 1969 nach einer verlorenen Gebietsreform den Hut, obwohl er nach den Unruhen vom Mai '68 einen erdrutschartigen Sieg bei der Parlamentswahl errungen hatte. De Gaulles Nachfolger wie Mitterrand oder Chirac blieben im Amt, als sie Parlamentswahlen verloren hatten. Macron würde von seinem Naturell her nicht freiwillig abtreten, zumal er bisher keinen Nachfolger aufgebaut hat. Aber sein Umfeld könnte ihn dazu drängen, wenn sein Beharren den zivilen Frieden im Land gefährdet. (Stefan Brändle aus Paris, 30.6.2024)