Erst kam das Erschrecken. Dann das Mitleid. Am Ende blieb bei vielen linksliberalen Zuschauern in den USA nur Panik zurück. Neunzig quälend lange Minuten hatten sie einer TV-Debatte zugesehen, die sich wie ein desaströser Zeitlupencrash anfühlte. Joe Biden, der mächtigste Mann der Welt, wirkte wie ein Boxer, der wehrlos auf der Matte liegt. Man zitterte, dass ihn der nächste Schlag nicht allzu hart treffen möge.

Joe Biden ist angezählt.
REUTERS/Marco Bello

Es hilft kein Drumherumreden, keine Relativierungen, auch kein Verweis auf eine Erkältung, die den Präsidenten schwächte: Dieses Fernsehduell mit seinem Herausforderer Donald Trump war eine Katastrophe für Joe Biden. Der Demokrat und seine Berater hatten es unbedingt gewollt, um die Tatkraft und geistige Vitalität des 81-Jährigen unter Beweis zu stellen. Erreicht haben sie das Gegenteil. "Er ist nur drei Jahre jünger als ich", sagte Biden am Ende über Donald Trump. Während der Sendung schienen eher 30 Jahre zwischen den Kontrahenten zu liegen.

Video: TV-Duell: Biden entsetzt selbst Demokraten, Trump lügt
AFP

Leerer Blick

Mit wächsernem Gesicht und leerem Blick hatte Biden das Podium im CNN-Studio in Atlanta betreten. Seine Stimme klang heiser und nuschelig, sein Bewegungsablauf wirkte verlangsamt. Schon nach zehn Minuten verlor er bei einer Antwort komplett den Faden und stammelte irgendetwas von "Covid" und "Medicare". Kurz darauf gingen Millionen, Milliarden und Billionen wild durcheinander. Immer wieder verhaspelte er sich.

Solche Versprecher wären an sich kein Drama. Doch auch inhaltlich geriet der Präsident rasch in die Defensive. Er schaffte es weder, seine Steuerpläne vernünftig zu erklären, noch, seinen Gegner an dessen wundestem Punkt, dem Streit über das Abtreibungsrecht, zu stellen. Trump hingegen war gut aufgeräumt und einigermaßen beherrscht. Rasch zog er die Gesprächsführung an sich und fabulierte, was er wollte.

Lügentsunami

Im Fernsehstudio schien sich die Welt zu verkehren. "Dieser Mann ist ein Krimineller", wetterte der verurteilte Straftäter Trump über Biden. Und: "Er ist ein Lügner." Dabei konnte der Möchtegerndiktator unwidersprochen vor einem gewaltigen Millionenpublikum einen regelrechten Lügentsunami über den Putschversuch vom Januar 2021, die Migranten an der Südgrenze der USA (die er pauschal als Schwerkriminelle diffamierte) und selbst seine persönliche Geschichte ("Ich hatte nie Sex mit einem Pornostar") entfachen.

Auf unfassbare Weise hat das CNN-Moderatorenduo versagt. Doch die Wähler müssen über die Kandidaten urteilen. Und bei ihnen zählt in der amerikanischen Mediengesellschaft die Performance mindestens so viel wie die Substanz. Schon vorher gab es starke Zweifel an Biden, der in vielen Umfragen hinter Trump liegt. Nach diesem alarmierenden Abend kann man sich nicht vorstellen, wie er die Stimmung in den verbleibenden vier Monaten bis zur Wahl noch drehen soll.

Fatale Lage

Damit geraten die US-Demokraten in eine fatale Lage: Eigentlich ist es zu spät, ihren Kandidaten für das Weiße Haus noch auszutauschen. Das ginge leichter, wenn Biden verzichten würde. Doch der Mann, der sein ganzes Leben in der Politik verbracht hat, will nicht lockerlassen. Zudem würde im Falle seines Abgangs Vizepräsidentin Kamala Harris ihre Ansprüche anmelden. Sie aber ist noch unbeliebter als der Präsident.

So hat die früheste Debatte in der Geschichte der US-Präsidentschaftswahlkämpfe, die eigentlich ein Befreiungsschlag für Biden sein sollte, dessen Partei tatsächlich in eine schwere Krise gestürzt. Die enormen Gefahren eines Wahlsiegs von Trump werden dadurch nicht kleiner. Im Gegenteil. Deshalb ist es höchste Zeit für einen Notfallplan ohne Tabus: Die Rettung der amerikanischen Demokratie darf nicht am Ego einzelner Personen scheitern – auch wenn es sich um den Präsidenten oder die Vizepräsidentin handelt. (Karl Doemens, 28.6.2024)