Junge, dunkelhäutige Frauenhand mit Vitaminkapsel und einem Glas Wasser in den Händen.
Nahrungsergänzungsmittel sollen ausgleichen, dass man zu wenig schläft, zu wenig Sport macht und zu viel Stress hat. Das schafft aber kein einziges Präparat.
Getty Images

Es ist eine riesige Industrie: Multivitaminpräparate, Spurenelemente, generell Nahrungsergänzungsmittel. Man kann sie als Pillen einnehmen, als Saft trinken oder sich, wenn es ganz besonders schnell gehen soll, als Infusion intravenös verabreichen lassen. Eisen, Magnesium, Selen, Omega 3, Vitamin B, C, D, alles das und noch viel mehr. Eine regelrechte "Apotheke" stellen sich manche für zu Hause selbst zusammen. Das geht auch deshalb, weil Nahrungsergänzungsmittel rechtlich gesehen Lebensmittel sind, keine Medikamente. Man braucht keine Verschreibung dafür.

All das kostet natürlich Geld, und zwar nicht wenig. Deshalb kann man auch viel Geld damit verdienen. Für die Gesundheit greift man gern einmal in die Tasche, und das summiert sich schnell. Laut einer repräsentativen Untersuchung das Marktforschungsinstituts Mintel wurde der Markt für Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland im Jahr 2023 auf rund 1,78 Milliarden Euro geschätzt, Tendenz steigend. Man kann davon ausgehen, dass damit auch in Österreich bis zu 200 Millionen Euro pro Jahr umgesetzt werden, manche schätzen sogar mehr.

Bleibt die große Frage: Zahlt sich dieses Investment aus? Sorgen Multivitaminpräparate und mehr dafür, dass man länger lebt? Genau das hat eine eine großangelegte Studie untersucht, die soeben im Journal of the American Medical Association (JAMA Network) publiziert wurde. Die Fragestellung: Wie ist der Zusammenhang zwischen der langfristigen täglichen Einnahme von Multivitaminpräparaten und der Sterblichkeit bei grundsätzlich gesunden Erwachsenen? Die Antwort: Tägliche eingenommene Vitaminpräparate lassen einen nicht länger leben.

Kein längeres Leben

Doch schauen wir uns das genauer an. Zuerst kommen ein paar Zahlen: Es handelt sich um eine Bobachtungsstudie, insgesamt flossen die Daten von 390.124 gesundenen Erwachsenen, die zu Beginn der Studie weder Krebs noch eine chronische Krankheit hatten, in die Untersuchung ein. Sie berichteten selbst über die Einnahme ihrer Multivitaminpräparate, diese Infos basieren nicht auf Daten wie etwa Verschreibungen. Störfaktoren wie individueller Lebensstil, etwa Rauchen, sportliche Aktivität oder Art der Ernährung, die Rückkoppelungseffekte auslösen könnten – zum Beispiel dass man genau deswegen Vitaminpräparate einnimmt –, wurden berücksichtigt. Die Daten der Personen wurden über 20 Jahre hinweg ausgewertet.

Das Medianalter der Teilnehmenden war 61,5 Jahre, 55,4 Prozent davon waren Männer. 49,3 Prozent jener Personen, die täglich Vitaminpräparate einnahmen, waren Frauen, 42 Prozent davon hatten einen Hochschulabschluss. Im Verlauf der 20 Jahre verstarben 164.762 Personen.

Aus all den Daten ließen sich keine Hinweise herausfiltern, dass die tägliche Einnahme von Vitaminpräparaten die Lebensdauer verlängert. Es wurde sogar ein geringfügig erhöhtes Sterberisiko für jene festgestellt, die täglich zu Vitaminen griffen. Dieser Anstieg ist allerdings statistisch nicht signifikant und könnte durch kleinere Verzerrungen in den Daten entstanden sein.

Alles für die Katz?

Was bedeutet das nun für die willig Vitaminpillen Schluckenden? Immerhin ist das nicht die erste Studie dieser Art, die herausgefunden hat, dass man dadurch nicht länger lebt. Ist also alles für die Katz?

Nein, das kann man so nicht sagen. Dass Mikronährstoffe überlebensnotwendig sind bzw. ein Mangel tödlich ausgehen kann, weiß man bereits seit Jahrhunderten, schreiben die Forschenden Neil Barnad, Hana Kahleova und Roxanne Becker in einem erklärenden Kommentar zur Studie und nennen das Beispiel, wie die Vitamin-C-Mangelerkrankung Skorbut bei Matrosen durch den Konsum von Limettensaft bekämpft wurde.

Ein weiteres klassisches Beispiel, das vor allem in Österreich und der Schweiz den entscheidenden Unterschied gemacht hat, ist die Jodierung von Speisesalz. Da große Teile Österreichs und der Schweiz Jodmangelgebiete sind, waren Schilddrüsenprobleme ein relevantes gesundheitliches Thema. In Folge 368 des Podcasts Geschichten aus der Geschichte berichtet der Historiker Daniel Meßner darüber, wie ein Schweizer Arzt durch diese Entdeckung den in manchen Gegenden grassierenden Kretinismus beendete.

Viele Vorteile – aber auch Nebenwirkungen

Es gebe eindeutige Vorteile von Supplementation, schreiben die Forschenden. So könne etwa die Einnahme von Beta-Carotin, den Vitaminen C und E sowie Zink das Fortschreiten einer Makuladegeneration verlangsamen. Bei älteren Menschen kann die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln das Gedächtnis verbessern und den kognitiven Abbau verlangsamen. Auch in der Schwangerschaft, bei chronischen Krankheiten oder nach bariatrischen Operationen können sie positiv auf die Gesundheit wirken.

Aber es gebe natürlich auch Risiken. Supplementiertes Beta-Carotin erhöhe das Lungenkrebsrisiko bei Rauchern, zu viel Eisen steht in Verbindung mit erhöhtem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenz. Kalzium und Zink können die Absorption bestimmter Antibiotika verringern.

Besser sei, betonen Barnad, Kahleova und Becker, die relevanten Nährstoffe aus Lebensmitteln zu sich zu nehmen, nicht aus Supplementen. Als positives Beispiel verweisen sie auf die sogenannten Blue Zones, in denen besonders viele gesunde über 100-Jährige leben. Sie empfehlen Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte und Getreide als Grundnahrungsmittel. Studien zeigen auch, dass der Ersatz von tierischem durch pflanzliches Protein mit verringerter Sterblichkeit assoziiert sei, betonen sie.

Kein Gießkannenprinzip

Sie folgern daraus, dass Vitaminpräparate vor allem in konkreten Situationen unterstützen können und dass man sich auf gezielte Substitution beschränken sollte. Das Gießkannenprinzip, frei nach dem Motto "Viel hilft viel" eingesetzt, ist eher nicht sinnvoll und produziert im besten Fall teuren Urin. Im schlimmsten Fall kann es – siehe oben – sogar schädlich sein.

Bleibt eine Frage: Ist ein längeres Leben überhaupt des Wunschziel, das man mit der Einnahme von Nahrungsergänzungsmittel erreichen will? Das steht tatsächlich nicht im Fokus, wird aber wohl als automatische Folge angenommen. Mehrere Umfragen zeigen, dass sich Menschen in erster Linie erhoffen, dadurch in der Gegenwart gesünder zu sein.

Wenn das längere Leben aber nicht garantiert ist, warum sind Nahrungsergänzungsmittel dann trotzdem so erfolgreich auf dem Markt? Weil sie die einfache und rasche Antwort zu geben scheinen auf die Frage nach besserer Gesundheit. "Wir suchen nach der einen Kapsel, die ausgleicht, dass wir zu wenig schlafen, zu ungesund essen, zu viel Stress haben und zu wenig Bewegung machen", sagte der Sportmediziner Robert Fritz hier dem STANDARD. Und ergänzte: "Die gibt es aber nicht."

Und er stellte klar: "Mikronährstoffe sind eine gute Ergänzung. Passt jedoch die Ernährung grundsätzlich nicht, bringt auch keine Kapsel etwas." (Pia Kruckenhauser, 29.6.2024)