In Tiflis war das von Videowalls geschmückte Mikheil Meskhi Stadium packlvoll, auch dort wurde fleißigst gejubelt.
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Nach dem ersten Jubel über das Elfmetertor zum 2:0 wurde es einige Minuten still in der Arena "Auf Schalke". Es schien, als konnten die zuvor so entfesselten georgischen Fans ihr Glück selbst nicht ganz glauben. Alle Fangesänge von "Sa-kar-tvelo!" bis zu den an Wladimir Putin gerichteten Schmähungen waren verstummt. Und dann kam wieder ein Ballgewinn, und dann war Schluss mit Stille.

Es hat etwas von einer Naturgewalt, wenn ein Georgier den Ball erobert und sofort den sechsten Gang einlegt. Die hauptsächlich weiß gekleidete Fankurve wird in derselben Sekunde zum Bienenstock und schiebt den Ballführenden an, als würde sie das Tor persönlich schießen wollen. Und dann rennt einer, meistens ist es Kvicha Kvaratskhelia, und dann rennen drei, vier andere mit, und es kann wirklich alles passieren. Der georgische Konterfußball lebt von Dribbelkunst, beinahe dreist lockeren Kombinationen und einer vor allem im ersten Match gegen die Türkei herzhaft präsentierten Liebe zur scharfen Seitenverlagerung.

So war es auch nach 83 Spielsekunden gegen Portugal. Ein Fehlpass landete bei Georges Mikautadze, der dribbelte ein paar Meter und schickte Kvaratskhelia auf die Reise. Der in Neapel auf "Kvaradona" umgetaufte Star des Teams blieb cool, ließ sich nicht einholen und versenkte den Ball zum 1:0 im langen Eck. Der Bienenstock explodierte.

Kämpfergeist

Vor Anpfiff wird in den Stadien je Team stets eine kurze Botschaft von heimatlicher Prominenz eingespielt. Bei Österreich war es Rainhard Fendrich, bei Serbien Novak Djokovic und so weiter. Georgiens Letztmotivation lieferte gegen Portugal der Kampfsportler Ilia Topuria. Im Februar hatte er sich mit einem garstigen Knockout gegen Alexander Volkanovski den Federgewichtstitel der Ultimate Fighting Championship geholt, der Mann ist pure Kampfeskraft. Am Mittwochabend hätte er genauso gut in der Fünferkette spielen können.

Georgien hat durchaus feine Techniker, aber die Mannschaft lebt eher von einer fast schon klischeehaften Mentalität. Jeder Schritt wird mit Maximaltempo gemacht, jeder Zweikampf diszipliniert, aber ohne Rückzugswillen geführt. Wer hofft, einen Zentimeter geschenkt zu bekommen, der wird schnell einen Ball ärmer sein.

Trotz aller Intensität wirkt das 5-3-2 von Willy Sagnol nicht immer wasserdicht. Dass Georgien noch im Turnier ist, liegt vor allem an Giorgi Mamardashvili, bisher der beste Goalie des Turniers. Mit 35 Millionen Euro Marktwert taxiert "Transfermarkt" den Valencia-Goalie, im Winter wäre er fast bei den Bayern gelandet. Auch gegen Portugal hexte der 23-Jährige mehrere Bälle von der Linie, die bei anderen Torleuten wohl im Netz gelandet wären, und hielt die Null.

Nicht unverdient

Ja, die Georgier haben es nur dank der Hintertür Nations League zur EM geschafft. Sie gewannen das Playoff der Liga C, nach dem Halbfinalsieg gegen Luxemburg schrieb die Elf in Tiflis gegen Griechenland via Elfmeterschießen Geschichte. Und ja, das schon als Gruppensieger feststehende Portugal rotierte auf acht Positionen und gab vielleicht nur 99 Prozent. Aber unverdient ist Georgiens Aufstieg nicht: Beim Auftakt-1:3 gegen die Türkei fehlten vor dem finalen Empty-Net-Tor zweimal nur Zentimeter zum Ausgleich, gegen Tschechien vergab Saba Lobjanidze in der 95. Minute allein vor dem Tor den Sieg.

In Gelsenkirchen begann die Party mit Schlusspfiff. Ein Trommler machte es sich auf dem Stadionvorplatz gemütlich und leitete Gesänge an, ein kleiner Bursche hüpfte auf die Menge zu, rief "Georgia is the best in the world!" und hatte Glück, mit seiner wild herumgewedelten Plastikfahne keinem ein Auge auszustechen. Legenden besagen, dass irgendwo auf dem Stadionparkplatz immer noch ein Georgier seine Hupe malträtiert.

"Niemand wird je verstehen, was Georgier gerade fühlen", sagte Mittelfeldspieler Giorgi Tsitaishvili. "Ihr könnt euch nicht vorstellen, was gerade in Georgien passiert. Es ist ein unglaubliches Gefühl, Teil davon zu sein", sagte Otar Kiteishvili, der ein Monat zuvor noch mit Sturm Graz das Double gefeiert hatte.

Einnehmender Traum

In der Heimat gingen Feiernde um ein Uhr Ortszeit auf die Straße. Mit nächtlichen Aufenthalten auf der Straße hat man in Georgien Erfahrung, im Frühling gab es wochenlang Proteste gegen die pro-russische Ausrichtung der Regierungspartei Georgischer Traum, die sich durch ein mittlerweile durchgesetztes Gesetz gegen "fremde Interessen" offenbarte. Auch manche Teamspieler unterstützten die Proteste offen. Trotzdem kamen Parlamentarier der Regierungspartei am Donnerstag in Teamtrikots ins Parlament, Parteifinancier Bidzina Ivanishvili versprach dem Team eine Prämie von 30 Millionen Lari, umgerechnet knapp zehn Millionen Euro. Die Opposition feierte separat und kritisierte die Regierung, sie vereinnahme den Erfolg des Teams.

Für den Viertelfinaleinzug hat Ivanishvili über die Partei 30 weitere Millionen Lari ausgelobt, die sind ungleich schwieriger zu verdienen. Im Achtelfinale wartet am Sonntag Spanien, die bisher wohl überzeugendste Mannschaft der EM. Aber, sagte Kvaratskhelia siegestrunken im ertauschten Trikot von Cristiano Ronaldo: "Wenn es auch nur eine minimale Chance gibt, glauben wir daran, es zu schaffen." (Martin Schauhuber aus Gelsenkirchen, 27.6.2024)