Fußballfans und Polizei, es fliegen Bierflaschen
München, vor dem Spiel Dänemark gegen Serbien: Fans der serbischen Mannschaft liefern sich eine Auseinandersetzung mit der Polizei.
Foto: Reuters / Christian Mang

Derzeit erleben wir ein österreichisches Sommerfußballmärchen. Nach tollen Spielen und dem Gruppensieg in der "Todesgruppe" mit Frankreich und den Niederlanden mutieren "unsere Burschen" vom Geheim- zu einem der Topfavoriten bei der Fußball-Europameisterschaft. Ganz Österreich ist entzückt. In meiner Nachbarschaft und meinem Freundeskreis, in dem sich die Diversität und Pluralität Österreichs in all ihren Facetten abbilden, wird mitgefiebert und gefeiert. Die Nationalelf – Marcel Sabitzer, Marko Arnautovic, Christoph Baumgartner, Florian Grillitsch, Kevin Danso und all die anderen – begeistert und vereint zumindest kurzfristig das sonst politisch und gesellschaftlich recht gespaltene Land.

Doch es gibt auch verstörende und bedrückende Bilder, die man bei der EM zu sehen bekommt. Es waren vor allem die südosteuropäischen Mannschaften und ihre Fans, die in den vergangenen Tagen für negativen Gesprächsstoff sorgten. Albanische und kroatische Fans taten sich mit radikal nationalistischen Sprechchören gegen Serbien hervor. "Tötet, tötet, tötet den Serben", stimmten kroatische und albanische Fans ihre Sprechchöre an. Serbische Fans revanchieren sich auf ihre Art und Weise. "Kosovo ist das Herz Serbiens", schrien sie, und schwangen Fahnen, auf denen Kosovo als ein Teil von Serbien abgebildet ist. Sie garnierten ihre Auftritte in Deutschland mit russischen Fahnen, Sprechchören, mit denen sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin glorifizierten, und vor allem mit sehr viel Gewalt. Im Vorfeld des Spiels Serbien gegen Dänemark kam es zu gewalttätigen Angriffen der serbischen Hooligans auf die deutsche Polizei in München, mehrere Polizisten wurden dabei verletzt.

Erbitterte Schlacht

All dies hat eine Vorgeschichte. In Ex-Jugoslawien begann in den 1990er-Jahren die Gewalt zuerst in den Fußballstadien. Das Match der großen Rivalen Crvena Zvezda (Roter Stern) Belgrad und Dinamo Zagreb im Mai 1990 ging als eines der Ereignisse in die Geschichte ein, die symbolisch den Beginn vom Ende Tito-Jugoslawiens einläuteten. Fans beider Teams lieferten sich auf den Tribünen und am Rasen eine erbitterte Schlacht, die mit 79 verletzten Polizisten und 59 verletzten Fans endete. Die von Fans und Hooligans getragene Gewaltwelle sowie Masseninszenierungen in den Fußballstadien Ex-Jugoslawiens waren viel mehr als nur eine Fortsetzung der Politik auf dem Fußballfeld – sie waren Trendsetter für zukünftige Entwicklungen. Anhand der Ereignisse im Fußball lassen sich die Geschichte der letzten fast 35 Jahre in Ex-Jugoslawien und des Zerfalls von Staat und Gesellschaft rekonstruieren.

"Die Überhöhung der eigenen und die Erniedrigung der anderen Nation – dieses Muster hat sich in weiten Teilen der politischen Landschaft auf dem Balkan festgesetzt und wird von politischen Eliten weiter kultiviert."

Auch heute ist das Fußballfeld ein Seismograf für die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Südosteuropa. Die sozialen Bruchlinien in der Region sind nicht verschwunden. Das Pathologische der Kriege der 1990er-Jahre dauert an. Die Überhöhung der eigenen und die Erniedrigung der anderen Nation – dieses Muster hat sich in weiten Teilen der politischen Landschaft auf dem Balkan festgesetzt und wird von politischen Eliten weiter kultiviert. Fußball bietet einen Rahmen an, in dem man die Nation als eine Art der großen exklusiven – ideologisch und real vor allem durch Männer und machistische Männlichkeiten geprägte – "Superfamilie" erleben kann. Zugleich bewährte sich das Feld des Fußballs oder des Sports allgemein als eines der wirksamsten Instrumente zur Aktivierung und Pflege von Wir-Bindungen und zur Schaffung von kollektiven Fantasien des Nationalen. Durch den Fußball bekommt der Nationalismus auf dem Balkan seinen volksnahen Charakter, erwirbt sich Massen für sein Wirken.

Boss Vučić

Auf dem Balkan – aber nicht nur dort – sind Fußballvereine und ihre Fan-Gruppen also zu entscheidenden Symbolen des Nationalen geworden. Dabei ist die Nähe zu Politik, die den Sport zur emotionalen Mobilisierung der "Nation" nutzt, oft verblüffend eng. In Serbien sagt man dem Präsidenten Aleksandar Vučić nach, dass er eigentlich die zentralen Entscheidungen in zwei für Serbien erfolgreichsten und wichtigsten Sportarten trifft – im Fußball und Basketball. So euphorisch er auf seinem Instagram-Kanal die serbische Mannschaft nach Deutschland verabschiedet und zwischenzeitlich angefeuert hat, so nüchtern ließ er den Serbinnen und Serben nach dem Ausscheiden bei der EM verkünden, dass der Coach und die Mannschaft die Erwartungen der Nation nicht erfüllt hätten und große Veränderungen anstünden. Neben dem sportlichen Coach und vielen Tausend Hobbycoaches gibt es hier den einen Boss, der die Geschicke aller dirigiert.

"Die Linie zwischen Patriotismus, Nationalismus und Rassismus ist sehr dünn."

Ex-Jugoslawien ist aber nicht die einzige Region, wo sich die breiteren gesellschaftlichen Probleme im Fußball abbilden. Manche türkischen Fans bejubeln ihr Team bei der EM mit dem Wolfsgruß der rechtsextremen Gruppe Graue Wölfe. In einigen Fan-Veranstaltungen zeigten Deutsche den Hitlergruß. Bei den Österreich-Spielen wurden vereinzelt auch rechtsradikale Fahnen und Symbole gesichtet. Insgesamt erleben wir auch bei dieser EM, dass die Linie zwischen Patriotismus, Nationalismus und Rassismus sehr dünn ist.

Nehammer (links), Kogler (Mitte), im Hintergrund die Fußballspieler der österreichischen Nationalelf in der Mannschaftskabine
Fußball verbindet: Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler mit der österreichischen Nationalmannschaft nach dem Spiel gegen die Niederlande.
Foto APA / Bundeskanzleramt

Zurück zum Sommermärchen der österreichischen Nationalelf, der ich als österreichischen Bosnier oder bosnischer Österreicher die Daumen für das nächste Spiel drücken werde. Nach dem Match gegen die Niederlande ließen sich Bundeskanzler Karl Nehammer und sein Vize Werner Kogler trotz all der jüngsten politischen Zerwürfnisse das gemeinsame Feiern in der Kabine nicht nehmen. Fußball kann die Nation – zumindest kurzfristig – zusammenschweißen. Jenseits dieser symbolischen Schauläufe der Politiker stellt sich die Frage, ob dieser positive Patriotismus nicht auch über die EM hinaus eine einigende gesellschaftliche Wirkung entfalten kann. Österreich würde es heute angesichts des Anstiegs der ausgrenzenden und spalterischen Ideologien genauso brauchen wie all die Gesellschaften Südosteuropas. (Vedran Džihić, 28.6.2024)