Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sprach sich für von der Leyen aus, Meloni war sauer.
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Mit einer Erklärung des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, dass die aus Deutschland stammende Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission nominiert werden soll, begann Donnerstagnachmittag der EU-Gipfel in Brüssel. Seine Parteienfamilie, die Sozialdemokraten, habe sich mit den Christdemokraten und den Liberalen nach den Europawahlen darauf geeinigt: "Jetzt diskutieren wir mit unseren guten Freunden in Europa, und die klare Hoffnung ist natürlich, dass alle diesen Vorschlag unterstützen", sagte Scholz.

Sein Statement und das des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron (Liberale) haben bei Europäischen Räten Gewicht. Denn von der Leyen war Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei und konnte sich der Unterstützung von 13 EVP-Premierministern, vier liberalen und vier von der SP sicher sein. Mit den Stimmen der Fraktionen von S&D und der liberalen RE hätte sie bei der für Mitte Juli im EU-Parlament vorgesehenen Direktwahl auch eine rechnerische Mehrheit der Abgeordneten hinter sich.

Arbeitsprogramm bis 2029

Damit das aber so laufen kann, muss eine Kommissionschefin die erste Hürde nehmen: die der Nominierung durch die 27 Staats- und Regierungschefs. Die "Personalie von der Leyen" ist deshalb so wesentlich, weil an der Kür der Kommissionschefin eine ganze Reihe anderer Personalentscheidungen hängt. Das Arbeitsprogramm der Kommission bis zum Jahr 2029 ist auch daran geknüpft, das sie mit 27 Regierungen, den Parteifamilien und dem EU-Parlament erarbeiten müsste.

Es sollte nichts schiefgehen bei diesem EU-Gipfel, berichteten Diplomaten. Die Lage sei zu ernst, als dass man sich ein Scheitern von der Leyens, die mühsame Suche nach einer Alternative leisten könne.

Nächste Woche kommt in den Niederlanden eine Rechtsregierung an die Macht. Nach den Wahlen in Frankreich gibt es vielleicht einen extrem rechten Premierminister Jordan Bardella. Das demonstrative Eintreten des Sozialdemokraten Scholz für seine christdemokratische Landfrau konnte also als ein gewichtiges Signal dafür gewertet werden, dass die Sache klappt.

Neben von der Leyen war zwischen den informellen "Koalitionsparteien" auch abgemacht, dass die liberale estnische Premierministerin Kaja Kallas neue EU-Außenbeauftragte nach Josep Borrell werden soll, gleichzeitig Vizepräsidentin der Kommission. Die Sozialdemokraten bekommen als zweitstärkste Fraktion im Parlament den Posten des Ständigen Ratspräsidenten zugesprochen. Charles Michel hört am 1. Dezember auf.

Gegenwind aus Italien

Eher nur als Theaterdonner im Pokerspiel um einflussreiche Posten in Brüssel wurde daher der scharfe Protest von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gewertet. Sie hatte es als "undemokratisch" gegeißelt, wie die drei Parteifamilien schon vor dem Gipfel alles ausgemacht hätten, an ihrem Land vorbei. Italien dürfte einen Schlüsselposten für Wirtschaft in der Kommission erhalten, und es gibt chon einen Namen: Europaminister Raffaele Fitto soll nach Brüssel wechseln. Der scheidende niederländische Premier Mark Rutte sagte auch öffentlich, dass Italien in der Kommission "gut vertreten sein" müsse.

Am Rande der Sitzung wurden Kommissarsposten gedealt. So besteht Maxcron darauf, dass Industriekommissar Thierry Breton bleiben kann.

Ungarns Premier Viktor Orbán lehnte als EU-Skeptiker von der Leyen ab, weil sie jede Menge Klagen und Sanktionen sein Land durchsetzte wegen der Verstöße gegen EU-Recht und Rechtsstaatlichkeit. Die Einigung der drei Parteifamilien nannte er "eine Schande" und eine "Koalition der Lügen". Solche Töne nimmt kaum jemand noch ernst, auch wenn Ungarn ab 1. Juli den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Orbán hat das Problem, dass seine Partei Fidesz seit dem Rauswurf aus der EVP als Fraktionslose im Parlament ein einflussloses Dasein fristet. Ob er eine Fraktion findet, sich den extrem Rechten mit Le Penisten, Lega und FPÖ anschließt, ist offen.

Qualifizierte Mehrheit

An den positiven Entscheidungen für das große "Personalpaket" sollten die Einwände wenig ändern. Eine Einigung wurde für die Nacht auf Freitag erwartet, sodass Ratspräsident Michel Vollzug melden könnte, bevor die Sonne aufgeht.

Österreichs Kanzler Karl Nehammer hatte bereits im Vorfeld erklärt, von der Leyen zu unterstützen. Inhaltlich erwartet er sich Schwerpunkte bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und bei der Umsetzung des EU-Migrationspakets.

Um die Personalien zu beschließen, brauchte es im Europäischen Rat keine Einstimmigkeit wie früher, sondern nur eine qualifizierte Mehrheit. 55 Prozent der Stimmengewichte der Länder, die 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, reichten aus, um von der Leyen und die anderen zu nominieren.

Bevor sich die Regierungschefs in diese Thematik und in Verhandlungen über die "Strategische Agenda" vertieften, welche die Grund­lage des Arbeitsprogramms der künftigen Kommission bilden soll, gab es jedoch einen anderen großen Tagesordnungspunkt, die Ukraine.

Aus Kiew war Präsident Wolodymyr Selenskyj angereist. Dienstag hatten EU-Beitrittsverhandlungen offiziell begonnen. Nun wurde mit ihm ein Sicherheitsabkommen fixiert. Selenskyj berichtete über die Friedenskonferenz in der Schweiz und Chancen für ein Folgetreffen. (Thomas Mayer aus Brüssel, 27.6.2024)