Eine Reihe von großen Kugeln auf einem Schiffsdeck.
Eine Reihe von Detektoren des Arca-Projekts. Es handelt sich um lichtempfindliche Sensoren, die am Meeresgrund Signale von Neutrinos aufzeichnen.
KM3NeT

Neutrinos sind erstaunliche Teilchen, die immer wieder durch ihre Sonderbarkeit überraschen. Sie sind so flüchtig, dass sie Materie fast mühelos durchdringen und kaum jemals Spuren hinterlassen. Dabei werden sie im Universum an vielen Orten in Massen produziert. Allein von unserer Sonne kommen Unmengen Neutrinos, jeder Quadratzentimeter unseres Körpers wird Sekunde für Sekunde von Milliarden von ihnen bombardiert.

Trotz ihrer weitgehenden Weigerung, mit der uns im Alltag bekannten Materie wechselzuwirken, lassen sie sich mit großen Detektoren nachweisen. Der bekannteste heißt Ice-Cube und befindet sich im Eis des Südpols, wo er in einem Volumen von einem Kubikkilometer Lichtblitze aufzeichnet, die vom Impakt einzelner Neutrinos im Eis herrühren.

Trotz der Menge an Neutrinos und der Dimensionen der verwendeten Detektoren wird nur ab und zu ein einzelnes Neutrino aufgezeichnet und beschrieben wie ein seltenes Tier. Im Vergleich zu den Milliarden Teilchenkollisionen, die in den großen Teilchenbeschleunigern der Welt jeden Tag erzeugt werden, ist das geradezu absurd wenig.

Boten aus dem All

In der Neutrino-Forschungsgemeinschaft ist ein solch seltenes Ereignis oft durchaus ein Grund, die Sektkorken knallen zu lassen. Die großen Detektoren sind nämlich darauf ausgelegt, keine Sonnenneutrinos, sondern solche aus den Weiten des Alls zu messen. Sie haben zum Teil extrem hohe Energien und stammen von außergewöhnlichen kosmischen Großereignissen.

Nun berichtete der Neutrinoforscher João Coelho von einer "fantastischen" neuen Neutrino-Sichtung. In einem Vortrag am 18. Juni bei einer Konferenz in Mailand erzählte er von der möglichen Entdeckung des Neutrinos mit der bisher höchsten gemessenen Energie. Davon berichtet das Onlineportal des Fachjournals Nature.

Five new detection units for the ARCA detector of KM3NeT
KM3NeT - the next generation neutrino telescope in the Mediterranean
KM3NeTneutrino

Die Messung stammt allerdings nicht wie meist bei den bisher beobachteten kosmischen Neutrinos von Ice-Cube, sondern von einem noch in Konstruktion befindlichen Neutrinoobservatorium namens Arca auf dem Grund des Mitttelmeers.

Wie bei Ice-Cube sieht das Konzept vor, ein riesiges Volumen eines durchsichtigen Materials (in diesem Fall Meerwasser) mit einem Raster an lichtempfindlichen Sensoren auszustatten, um die Lichtblitze zu messen, die Neutrinos bei einer ihrer seltenen Interaktionen auslösen. Die Detektoren hängen an Kabeln, die in 3500 Meter Tiefe auf dem Meeresboden fixiert sind.

Arca ist seit Mitte der 2010er-Jahre im Einsatz und begann Daten zu sammeln, während nach und nach die Zahl der Detektoren vergrößert wurde. Derzeit sind 28 Kabel im Einsatz, jedes davon etwa 800 Meter lang und mit 18 Detektoren ausgestattet.

Nadel im Heuhaufen

Nicht alle detektierten Teilchen sind Neutrinos. Die meisten Signale gehen auf Teilchenschauer zurück, die von kosmischer Strahlung in der Erdatmosphäre ausgelöst werden. Diese Schauer dringen bis auf den Meeresgrund vor und stören die eigentliche Beobachtung.

Auch Neutrinos werden nicht direkt beobachtet. Der Einschlag von Neutrinos in den Bestandteilen von Wassermolekülen erzeugt Myonen, Verwandte der bekannten Elektronen. Das Myon wiederum hinterlässt Spuren, die sich nachweisen lassen.

Ein Kamerabild auf einem Bildschirm zeigt einen kugelförmigen Detektor, der mit einem Kran hinabgelassen wird.
Hier erreicht einer der Detektoren den Meeresgrund in 3500 Meter Tiefe.
KM3NeT

Um zu unterscheiden, ob ein Signal von der Atmosphäre stammt oder tatsächlich auf ein Neutrino aus dem All zurückzuführen ist, muss die Richtung festgestellt werden, aus der der Einschlag kam. Teilchen, die senkrecht von oben kommen, stammen vermutlich aus der Atmosphäre.

Doch Teilchen aus anderen Richtungen müssen von den alles durchdringenden Neutrinos stammen. Eines der zuletzt registrierten Signale deutet auf ein Neutrino mit der unerhört hohen Energie von einigen zig Petaelektronenvolt hin. Elektronenvolt ist eine in der Teilchenphysik gängige Energieeinheit. Zum Verständnis: Ein Teraelektronenvolt, wie es Teilchen am Beschleuniger LHC erreichen, ist in etwa die Energie einer fliegenden Stechmücke. Das ist extrem hoch für ein subatomares Teilchen. Die Energie des nun gemessenen Neutrinos ist um ein Zigtausendfaches höher und ähnelt eher jener einer Fledermaus als einer Stechmücke.

Suche nach dem Ursprung

Derzeit arbeitet das Team daran, die Richtung des außergewöhnlichen Teilchens genauer zu bestimmen. Auf diese Weise hofft man, seine Quelle ausfindig zu machen. Es könnte sich um ein supermassives Schwarzes Loch handeln, in dessen Umgebung die Bedingungen extrem genug sind, um ihm so hohe Energie zu verleihen. Dann soll auch eine Publikation in einem Fachjournal folgen.

Schon jetzt scheint aber klar: Es handelt sich um ein "fantastisches Ereignis". So sieht es jedenfalls der leitende Wissenschafter des Konkurrenzprojekts Ice-Cube, Francis Halzen. Ice-Cube konnte dieses Jahr ebenfalls einen Erfolg verzeichnen, als erstmals der Nachweis einer neuen Neutrino-Sorte aus dem All gelang, der sogenannten Tau-Neutrinos, einer selteneren Neutrino-Variante, die sich, wenn man der englischen Fachbezeichnung folgt, im "Geschmack", englisch "flavour", unterscheidet.

Künftig soll Arca Teil eines Verbunds an Neutrinodetektoren werden und einen Partner im Meer vor dem französischen Toulon bekommen. Das gesamte Projekt wird Cubic Kilometre Neutrino Telescope, kurz KM3NeT, genannt. Es handelt sich um eine Zusammenarbeit, an der neben zahlreichen europäischen Staaten wie Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland auch Marokko, Südafrika, Australien, Georgien, China und die Vereinigten Arabischen Emirate beteiligt sind.

Bis 2028 soll die Zahl der sensorführenden Kabel von 28 auf 230 erhöht werden. Arca dringt aber durch die glückliche Beobachtung schon jetzt in Bereiche vor, die bisher nur Ice-Cube zugänglich waren. "Es ist wie ein Lottogewinn", freut sich auch Francis Halzen. (Reinhard Kleindl, 1.7.2024)