Jedes Mal, wenn ich in meine Wohnung komme, sehe ich meine Oma. Ich sehe sie, wie sie vor ihrer Nähmaschine sitzt, Löcher stopft und schimpft – auf uns Kinder, weil wir nicht sorgsamer mit unserer Kleidung umgehen. "Nix ist euch heilig", höre ich sie sagen.

Großeltern mit Enkelkindern am Bauernhof
Liegestuhl, Spitzentischdecke und Plastikblumen: Wenn man Wirtshaus "spielt", muss die Einrichtung stimmen. Die liebsten Gäste der Autorin waren ihre Großeltern.
Anna Wielander

Meine Oma ist 2018 gestorben. Seitdem habe ich Angst, sie zu vergessen. Ihre Stimme. Ihre Bewegungen. Ihren Geruch. Die Lücke, die nach ihrem Tod entstanden ist, versuche ich mit Dingen aus ihrem Leben zu füllen. Da ist zum Beispiel der Sechzigerjahre-Schrank in meinem Vorzimmer. Ein unpraktisches, tonnenschweres Möbelstück. Es erinnert mich täglich daran, wie viel sie gearbeitet hat. Auf dem Schrank wurde alles abgelegt, was zu erledigen war: Wäscheberge, schmutzig und sauber, stapelweise Hemden zum Bügeln, daneben die löchrigen Jeans der Enkelkinder.

50 Stück Jägermeister-Kellnerblöcke

Nach dem Tod meines Opas ging das Haus meiner Großeltern schließlich an meinen Onkel und seine Frau über. Sie wollten einen Neuanfang, also wurde vieles weggegeben, manches weggeworfen oder zum Mitnehmen in die Einfahrt gestellt.

Braucht hier jemand dringend Haushaltsschürzen? 50 Stück Jägermeister-Kellnerblöcke? Emailschüsseln in jeder Form und Farbe? Ein Ölgemälde vom letzten Abendmahl? Als meine Großmutter noch lebte, waren mir diese Gegenstände egal. Manche fand ich sogar ganz entsetzlich. Jetzt sind sie alle Teil meines Haushalts.

Vor kurzem hat der Umbau des Bauernhofs begonnen. Ich besuche die Baustelle nicht gerne, weil mit jeder Wand, die abgerissen wird, auch ein Stück Erinnerung verschwindet. Das letzte Mal, als ich dort war, stand ich wieder in ihrem alten Nähzimmer. Die Trauer kam schnell und blieb lange. Warum kann ich meine Oma nicht gehen lassen? Später fand ich auf dem Boden einen rostigen Fingerhut, ich steckte ihn ein. Für einen Moment war alles wieder gut. (Anna Wielander, 5.7.2024)