Die österreichische Autorin Ulrike Haidacher bei ihrer Lesung am Donnerstagvormittag.
APA/GERD EGGENBERGER

Mit einem Text über eine Schreibkrise und eine gute "Distanz" und "Hassliebe" gegenüber den Worten als Schutzmittel gegen die Reden des Populismus ging der Bachmannpreis heuer los – am Mittwochabend in Form der Eröffnungsrede von Ferdinand Schmalz nämlich. Von Schreibkrise war am ersten Lesetag dann wenig zu merken.

Eine Beziehungs- und Suchtgeschichte von Sarah Elena Müller machte den Anfang. "Er sieht mich aus einem abgeriegelten Gesicht an", fand Mara Delius darin ein besonders schönes Bild. Sah sie bei ihren Kollegen in der Jury ebensolche abgeriegelten Gesichter, wie sie zuerst meinte? Keineswegs! "Klug", "kunstvoll", "präzise", hieß es. "Angenehm offene Fragen" ortete Mithu Sanyal und stellte mit Blick auf Schmalzens vortägiges Lob eines lustvollen Nichtverstehens, das einen nicht am Text, sondern am eigenen Lesen zweifeln lasse, fest: "Der Text muss mich nicht befriedigen, offensichtlich ist mein Lesen nicht genug."

Zu viel gesagt

So ging die Schweizer Auftaktautorin als Siegerin vom Platz, anders als danach die Österreicherin Ulrike Haidacher. Rahmung für ihre Geschichte über eine junge Frau, deren Mutter und sterbende Großmutter ist die Pflegekrise. Anja, 30, hat nämlich ihren Job als Krankenpflegerin gekündigt. Hörsturz, kein Privatleben, Bandscheibenvorfall – anders als ihre Mutter im gleichen Beruf will sie das nicht länger hinnehmen. So wird aus dem Match Care-Arbeit vs. Self-Care auch ein Generationenkonflikt. "Die könnte genauso gut Hedgefonds-Managerin sein", war Tingler von den Überlastungsdetails nicht überzeugt. Insgesamt war der Jury der zugängliche Text zu unspannend, "zu vorsichtig", "zu auserzählt". "Jeder Satz meint genau das, was die Wörter sagen", klagte Neuzugang Laura de Weck.

So sieht es heuer im Bachmannpreis-Studio aus.
APA/GERD EGGENBERGER

Zweimal Eltern in der Krise gab es danach. Von Eltern mit gescheiterten Hoffnungen und Träumen las Jurczok. Schön ironisch am zur Kompensation vom Vater entwickelten "Münzfanatismus" fand der Schweizer Juror Thomas Strässle, dass hier "eine Person in die Schweiz flüchtet, und womit beschäftigt sie sich? Natürlich mit Zahlungsmitteln!" Das Match ging ansonsten aber gegen den Text ("unbeholfen", "viele Sätze sind unnötig") aus. Tijan Sila überzeugte hingegen mit zwei statt von der Stiefmutter und der DDR (Jurczok) von der Belagerung Sarajewos nachhaltig traumatisierten Elternfiguren. Vom "klugen Aufbau" über die "Erzählökonomie" bis zur "Aktualität" (Stichwort Ukrainekrieg) fanden alle Juroren alles daran gut und wurden zum Fanchor.

Gehäufte Kriegsfolgen

Erstaunlich, wie die Auslosung der Lesereihenfolge manchmal thematische Häufungen sichtbar macht: Um Nachwirkungen der Nazizeit im deutschen Versandhandelwirtschaftswunder ging es zum Abschluss bei Christine Koschmieder. Die "Verformungsbereitschaft" der neuen Nylonstrumpfhosen der 1960er schloss die Jury mit jener der Gesellschaft kurz: Wie hätte man ohne einen Glauben an die Veränderbarkeit von Menschen nach 1945 weitermachen sollen? Viel Lob – nicht nur für die Zeitkapselqualität des Textes.

Ein Tag mit ernsten Inhalten, denen sachliche Diskussionen entsprachen. Nach dem man aber auch weiß, dass Texte mit sprechenden Gegenständen bei Klaus Kastberger kein Leiberl haben: "Ich hasse den Kleinen Prinzen." (Michael Wurmitzer, 27.6.2024)