Eren Güvercin 
Eren Güvercin, Mitgründer der Alhambra-Gesellschaft für liberale Muslime, fordert eine religionspolitische Zeitenwende.
Silvia Reimann

Was hat das mit dem Islam zu tun? Es ist die Frage, die immer auftaucht, wenn es um Probleme in und mit muslimischen Communitys geht – um radikale Ideen, Alltagsverbrechen bis hin zum Anschlag. In Österreich wie auch in anderen Ländern Europas ist die Bedrohung durch islamistischen Terror so groß wie seit Jahren nicht mehr. Anders als beim Rechtsextremismus, von dem eine mindestens ebenso hohe Anschlagsgefahr ausgeht, steht beim islamistischen Extremismus die Religion im Zentrum der Diskussion. Oder besser gesagt: ihre Auslegung. Warum mündet sie bisweilen in Gewalt? Wer prägt das muslimische Leben in einer christlich geprägten Gesellschaft? Eren Güvercin, deutscher Autor mit türkischen Wurzeln, ist dieser Tage ein gefragter Experte, wenn es um diese Fragen geht.

STANDARD: Kürzlich erschien eine Studie, wonach 35 Prozent der Wiener Volksschülerinnen und Volksschüler Muslime sind. Dieser Wert liegt knapp unter jenen christlichen Glaubens. Auch sind der Studie zufolge muslimische Schülerinnen und Schüler religiöser und zeigen öfter antisemitische Tendenzen oder haben abwertende Haltungen etwa gegenüber Homosexualität. Wie groß ist das Problem?

Güvercin: Solche Studien gibt es auch in Deutschland. Dass es problematische Haltungen in der muslimischen Community gibt, ist bekannt. Das ist eine Realität, der man sich stellen muss. Von Muslimen kommt da oft nur die reflexartige Reaktion: Die Studie sei nicht seriös. Das ist mir zu plump.

STANDARD: Warum sind streng religiöse Ansichten unter jungen Muslimen so populär? Sie sind in Österreich oder Deutschland aufgewachsen. Mit den Herkunftsländern ihrer Familie haben sie teils wenig bis gar nichts zu tun.

Güvercin: Ich beobachte in muslimischen Communitys und islamistischen Milieus eine Art Identitätspolitik. Damit meine ich Überlegenheitsvorstellungen, eine konstruierte muslimische Identität, mit der man sich gegenüber der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft moralisch überlegen wähnt. Das ist häufig die Grundlage für Radikalisierung. Darauf können radikale Salafisten aufbauen oder Gruppen, die wie in Hamburg auf die Straße gehen und ein Kalifat fordern. Damit setzen sich die Moscheeverbände, aber auch die muslimischen Communitys insgesamt nicht auseinander. Auch weil diese Überlegenheitsvorstellungen in ihren Gemeinden ein Stück weit mit befeuert werden.

Themenwoche: Kriminalität, Sicherheit und Radikalisierung
Illustration/ STANDARD

STANDARD: Das trifft wiederum auf antimuslimische Ressentiments, die ja auch zunehmen.

Güvercin: Die politisch Verantwortlichen müssen realisieren, dass es natürlich Diskriminierungserfahrungen und politische Akteure gibt, die antimuslimische Ressentiments bedienen. Die muslimische Community ist Teil dieser Gesellschaft und muss auch als solcher behandelt werden. Aber auf der anderen Seite müssen Muslime – so wie jeder andere Bürger dieses Landes – in die Verantwortung genommen werden. Wenn sie aber mit Islamismus konfrontiert werden, weisen sie reflexhaft auf Rassismus oder Islamophobie hin, statt sich damit selbstkritisch auseinanderzusetzen. Vor allem bei muslimischen Verbänden muss man diesen Reflex durchbrechen. Muslime sind nicht per se Opfer. Politische Debatten, egal in welchem Bereich, arbeiten immer ein Stück weit mit Verkürzungen. Aber das trifft nicht nur auf Debatten über Muslime zu. Da müssen Muslime ein bisschen lockerer werden. Wenn von der katholischen Kirche die Rede ist, geht es oft auch um Probleme: etwa Korruption oder Missbrauchsfälle. Man muss nicht immer hinter jeder Wortmeldung und Frage Diskriminierung wittern.

STANDARD: Der Islam wird meistens im negativen Kontext diskutiert. Müsste man mehr über Chancen sprechen, die junge Musliminnen und Muslime in freien Demokratien haben?

Güvercin: Ja, es wird zu wenig über positive Dinge gesprochen. Deswegen driften junge Muslime in diese Überlegenheitsvorstellungen ab. In ihrer Wahrnehmung werden sie als Muslime in einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft als Problem wahrgenommen. Das muss gesamtgesellschaftlich durchbrochen werden.

Raheem Boateng von Muslim Interaktiv.
Raheem Boateng ist das Gesicht der Kalifats-Proteste in Hamburg.
IMAGO/Markus Matzel

STANDARD: Muslimische Religionsvertreter sehen sich oft unter Generalverdacht gestellt, wenn sie auf Probleme in ihren Communitys angesprochen werden. Können Sie das nachvollziehen?

Güvercin: Nein, überhaupt nicht. Das ist ein Scheinargument. Es ist legitim, wenn ein einfacher muslimischer Bürger nach einem Anschlag sagt: "Damit habe ich nichts zu tun, warum soll ich mich davon distanzieren?" Aber wenn muslimische Organisationen und Verbände für sich beanspruchen, Religionsgemeinschaften zu sein, dann haben sie eine gesellschaftliche Verantwortung. Nach einem islamistischen Attentat ist es natürlich die Verantwortung einer Religionsgemeinschaft, Haltung zu zeigen – und zwar öffentlich.

"Es vergeht keine Woche, in der ich nicht zumindest eine Anzeige erstattet habe."
Eren Güvercin

STANDARD: In welcher Form?

Güvercin: Man muss diese Täter beim Wort nehmen. Sie legitimieren ihre Terrortaten religiös und missbrauchen damit den Islam. Es muss das ureigenste Interesse der Mehrheit der Muslime sein, zu unterstreichen, dass das nicht ihr Religionsverständnis ist. Tut man das nicht, überlässt man Islamisten und Rechtsextremisten die Definitionshoheit.

STANDARD: Sie fordern in Anlehnung an den Ukrainekrieg eine "religionspolitische Zeitenwende", also große Umbrüche. Was meinen Sie damit?

Güvercin: Es gibt keine aktive Religionspolitik. Der Staat ist eher Beobachter und sieht nicht, welche Zäsur der Angriff am 7. Oktober auf Israel gebracht hat. Der Hamas-Terror hat die Probleme in der muslimischen Community sichtbarer gemacht. Die vor allem aus der Türkei kommenden Muslime in Deutschland und Österreich leben seit 60 Jahren hier. Aber der türkische Staat gestaltet das muslimische Leben hier immer noch viel stärker als unser Staat. Die größten muslimischen Verbände in Deutschland und Österreich sind ideologisch stark verbunden mit der Partei des türkischen Präsidenten. Sie sind ein zentrales Instrument der türkischen Diasporapolitik, um die türkische Identität zu wahren. Dazu gibt es kein Gegenangebot. Es sind unsere Muslime, und um sie müsste sich in erster Linie der eigene Staat kümmern. Sonst darf man sich nicht wundern, wenn junge Muslime in dritter, vierter Generation noch immer als etwas Fremdes wahrgenommen werden.

STANDARD: Warum gibt es so wenige liberale Stimmen im Diskurs rund um den Islam?

Güvercin: Es ist zumindest in Deutschland sehr schwierig, dass Muslime mit unterschiedlichen Positionen zusammenkommen und über Grundsatzfragen diskutieren. Hinzu kommt, dass liberale oder verbandsunabhängige Muslime weniger stark organisiert und deshalb – wenn überhaupt – nur als Einzelpersonen wahrnehmbar sind. Ich sehe heute schon eine größere Vielfalt als etwa vor zehn Jahren. Aber nichtsdestoweniger melden sich immer dieselben Akteure zu Wort. Es hat Auswirkungen, wenn man sich als gläubiger Muslim zu bestimmten Themen äußert, vor allem zu Israel, Hamas oder der Türkei. Das fängt mit Beleidigungen an und geht bis zu Bedrohungen. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht zumindest eine Anzeige erstatte. Das ist vielleicht auch der Grund, warum sich nicht viele öffentlich positionieren. Diese Vielfalt der muslimischen Community sichtbarer zu machen würde aber auch dazu führen, dass Muslime gesellschaftlich nicht als homogene Gruppe wahrgenommen werden.

STANDARD: Deutsche und österreichische Behörden haben radikale Prediger im Visier, die auch hierzulande viele Junge auf Tiktok indoktrinieren. Was macht sie so erfolgreich?

Güvercin: Sie haben früh erkannt, wie gut man auf Tiktok junge Menschen erreichen kann, sind dort sehr präsent, sprechen ihre Sprache und kennen ihre Ausdrucksweisen. Deswegen sind sie jetzt auch in der Lage, für Demonstrationen eine nennenswerte Anzahl von Menschen zu mobilisieren, die wie in Hamburg offen ein Kalifat herbeisehnen.

STANDARD: Bereiten sie damit auch den Nährboden für Terror?

Güvercin: Absolut. Sie predigen zwar keine Gewalt und rufen nicht zu Anschlägen auf. Die Prediger kennen die Grenzen des Rechtsstaates. Sie sind die erste Station, die junge Leute mit einem problematischen Religionsverständnis beeinflussen. Die weitergehende Radikalisierung findet nicht im öffentlichen Raum statt. Junge Muslime haben oft ein gewisses religiöses Bedürfnis. Die Prediger machen ihnen ein Angebot – und es gibt kein nennenswertes Gegenangebot. Junge Menschen müssen durch Demokratiebildung im Vorfeld so gestärkt werden, dass sie diesen ideologischen Akteuren nicht auf den Leim gehen. (Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, 4.7.2024)