Die Formen von Onlinepornografie bekommen immer mehr Facetten, auch dank KI.
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Über das "Pornoschauen" wird wenig gesprochen. Es ist ein Tabuthema. Das ist ein Problem, schließlich verfallen immer mehr Menschen dem frei zugänglichen Konsum, bis das reale Leben darunter zu leiden beginnt. Hinzu kommt eine Versorgungslücke im staatlichen Beratungsangebot und so lösen vor allem Männer mit Redebedarf und nicht ausgelebten Fantasien einen Boom der KI-Freundinnen aus. Leider herrschen auch in der virtuellen Welt, genau wie in der Pornoindustrie, vermehrt Gewaltfantasien und ein veraltetes Frauenbild vor.

Die systemische Sexualberaterin Theresa Lachner, die auch einen Podcast zum Thema Sexualität leitet und Workshops abhält, geht im STANDARD-Interview auf die gröbsten Missverständnisse in der Diskussion ein und wünscht sich für die Zukunft eine weniger aufgeregte und dafür eine verstärkt faktenbasierte Auseinandersetzung mit dem Thema.

STANDARD: Sie haben sich bei der Vorbesprechung des Fragenkatalogs beim Wort "Pornosucht" sichtlich vor den Kopf gestoßen gefühlt, obwohl es auch in der medialen Berichterstattung immer wieder vorkommt, beispielsweise im Fall Florian Teichtmeister im Vorjahr. Vielleicht können Sie kurz erklären, warum dem so ist.

Lachner: "Pornosucht" ist im besten Fall eine Selbstdiagnose und im schlimmsten Fall ein rechtskonservativer Kulturkampfbegriff, aber keine medizinische Diagnose. Das weltweit gültige Diagnosemanual ICD-11 hat in der neuesten Fassung die Diagnose Compulsive Sexual Behavior Disorder (kurz CSBD) aufgenommen, zu Deutsch etwa zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung, die im Kapitel der Impulskontrollstörungen als Verhaltenssucht geführt wird. Nach aktuellem Forschungsstand sprechen wir also nicht von einer Sucht, sondern von einer Pornonutzungsstörung, einem Unvermögen, starke sexuelle Impulse (in diesem Fall: den Pornokonsum) zu kontrollieren, sodass ein Sexualverhalten andauernd wiederholt wird, trotz negativer Folgen.

STANDARD: Nachdem wir das geklärt haben, kommen wir zur ersten Frage. Gibt es spezifische Risikofaktoren, die speziell Männer anfälliger für diese Nutzungsstörung machen?

Lachner: Das Risiko für eine Pornonutzungsstörung und andere Verhaltenssüchte steigt, wenn Schwierigkeiten in Lebensbereichen wie Familie, Schule, Arbeit oder Freundschaften oder zum Beispiel auch Aufmerksamkeitsstörungen, Angststörungen, depressive Störungen oder Substanzkonsumstörungen vorliegen. Je jünger die Betroffenen sind, wenn sie mit dem Pornokonsum anfangen, desto anfälliger sind sie auch für eine Pornonutzungsstörung. Auch andere Faktoren wie negative sexuelle Erfahrungen können eine Rolle spielen.

STANDARD: Macht es einen Unterschied auf das Verhalten der Betroffenen, je nachdem welche Arten von Pornos man schaut? Es gibt ja sehr viele Taboos, die hier immer wieder gebrochen werden und jede Form von Gewalt.

Lachner: Es gibt diverse Studien zur Gewaltdarstellung in Pornografie, die man auch kritisch sehen kann, weil dort nicht zwischen konsensuellem Kink und tatsächlichem Übergriff unterschieden wird – was wir als Zusehende manchmal selbst nicht genau unterscheiden können. Auch ein Klaps auf den Po oder ein "Bitch!" Ausruf wird in diesen Studien teilweise schon als Gewaltakt verbucht. Eine relativ neue Studie des französischen Gleichstellungsausschuss befand: 90 Prozent aller Pornos enthalten körperliche, sexuelle oder verbale Gewaltakte gegen Frauen. Sie würden mit sexistischen und rassistischen Stereotypen karikiert, gedemütigt, objektifiziert, entmenschlicht, angegriffen und gefoltert – und diese Herabwürdigungen würden auch noch erotisiert.

STANDARD: Jetzt kann man sich natürlich fragen, was zuerst da war – die Gewalt oder die Darstellung von Gewalt.

Lachner: Genau, aber tatsächlich sollten wir darüber reden, warum Gewalt überhaupt so erotisiert wird, und ob es wirklich so "edge-cutting" und "kinky" ist, wenn sie fast ausschließlich von Männern an Frauen verübt wird.

STANDARD: Glauben Sie, können Online-Pornos Gewaltfantasien eher verstärken oder neutralisieren?

Lachner: Wie so oft: kommt darauf an. Gewalt gegen Frauen und Antifeminismus nehmen gerade generell zu. Es ist das feministische Paradox: mit der Stärkung des Frauenbildes entsteht gleichzeitig ein Backlash, und den erleben wir gerade auf allen Ebenen. Sexistische KIs von sexistischen Männern für sexistische Männer bilden da keine Ausnahme.

STANDARD: Wäre es zu vereinfacht ausgedrückt zu sagen, dass viele Männer – eventuell vor allem jene, die mit der zunehmenden Stärkung des Frauenbildes nicht zurechtkommen – sich in diesen Pornofantasien in einen "sicheren Hafen" zurückziehen?

Lachner: Wir vermeiden natürlich tunlichst Ferndiagnosen, aber natürlich ist es einfacher, sich mit einem genau für die eigenen Bedürfnisse und Ansprüche programmiertem Bot auseinanderzusetzen, als mit einem echten Menschen.

STANDARD: Wenn wir schon beim Thema Bots sind, lassen Sie uns gleich in einen ganz neuen Bereich eintauchen. In den letzten Monaten haben wir viel über KI-Freundinnen und KI-Chatbots berichtet. Welche Rolle spielen diese Ausprägungen der Künstlichen Intelligenz (KI) bei der Befriedigung sexueller Fantasien?

Lachner: Die Suchanfragen nach "AI Girlfriends" haben im vergangenen Jahr um 525 Prozent zugenommen, in einer Umfrage haben 28 Prozent aller männlichen User zwischen 18 und 34 angegeben, schon einmal mit einem Chatbot-Girlfriend interagiert zu haben, jede und jeder fünfte zwischen 13 und 39 Jahren ist angeblich offen für eine Chatbotbeziehung. Den meisten scheint es dabei in erster Linie darum zu gehen, nicht einsam zu sein, NSFW-Content (NSFW steht für "not safe for work", also Inhalte, die zum Beispiel Nacktheit enthalten können, Anm.) landet erst auf Platz vier der wichtigsten Features.

STANDARD: Welche ethischen und psychologischen Herausforderungen ergeben sich aus der Nutzung von KI-Freundinnen für sexuelle Zwecke?

Lachner: Erst einmal: sehr viele! Zum Beispiel: Mit welchen Daten wurden die Bots gefüttert und von wem? Welche Rassismen, Sexismen und Stereotypisierungen werden dabei reproduziert, wessen Urheberrechte verletzt? Wo landen die möglicherweise höchstsensiblen Daten, die im Chat mit dem Bot ausgetauscht werden? Wie geht der Anbieter mit illegalen Prompts um, beispielsweise bezüglich Kindesmissbrauch oder Vergewaltigungsszenarien? Ist Flirten mit einem Bot schon fremdgehen?

STANDARD: Laut unseren Recherchen wird von den großen Anbietern sehr wohl jegliche Form von Kindesmissbrauch und Vergewaltigungsszenarien unterbunden, indem diverse Begriffe einfach nicht in den Gesprächen genutzt werden dürfen, aber wir können natürlich auch nicht sicher gehen, dass es schwarze Schafe gibt, die man anderswo findet. Aber gibt es in aktuellen Studien Anzeichen dafür, dass Menschen, die KI-Freundinnen nutzen, Schwierigkeiten haben, echte Beziehungen aufzubauen?

Lachner: Das kommt ganz auf die jeweilige KI an. Es gibt zum Beispiel auch spezielle Bots, um Flirten, Consent oder Streits zu trainieren, die Menschen so sozialkompetenter machen wollen. Generell stellt sich natürlich die Frage, ob wir wirklich in einer "frictionless society" leben wollen, in der uns niemand widerspricht und ein virtueller Partner oder eine virtuelle Partnerin immer genau so agiert, wie wir uns das wünschen.

Theresa Lachner
Theresa Lachner beschäftigt sich seit Jahren mit der Thematik und ist als Systemische Sexualberaterin, Speakerin und Podcasterin tätig.
Martin Holzner.

STANDARD: Sie haben gerade schon Geschlechterstereotype bei KI-Inhalten angesprochen, die es natürlich auch generell in der Pornografie gibt. Wie beeinflussen oder befeuern diese die angesprochenen Nutzungsstörungen?

Lachner: Schwer zu sagen, ob da eine Korrelation besteht. Was aber interessant ist: Wenn wir in den Medien selbstdiagnostizierte "Pornosucht"-Betroffene sehen, handelt es sich dabei fast ausschließlich um Männer, obwohl Frauen rund 30 Prozent der Pornokonsumentinnen ausmachen. Derzeit geht man davon aus, dass etwa drei bis fünf Prozent der männlichen Bevölkerung in Deutschland betroffen sind.

STANDARD: Wie können wir Menschen dabei unterstützen, einen gesunden Umgang mit Onlinepornografie zu finden?

Lachner: Indem wir als Gesellschaft generell erst einmal offener damit umgehen, dass Pornografie existiert. Es gibt kein anderes Unterhaltungsmedium, das von so vielen Menschen genutzt und dabei so wenig öffentlich diskutiert wird. Wir kennen die Lieblingsserie unserer Freundinnen und Freunde, ihren Lieblingsfußballverein, aber wissen nicht, welchen Pornostar sie gut finden. Ich würde mutmaßen, dass mehr Menschen Pornos schauen als die Europameisterschaft, Public Viewings gibt es hier aber höchstens beim Pornfilmfestival im Programmkino.

STANDARD: Weil wir wohl auch nicht gelernt haben, über diese Themen mit unserem Umfeld zu sprechen?

Lachner: Dem ist ganz sicher so. Deshalb gilt es eine verbesserte sexuelle Medienkompetenz aufzubauen, von der nicht nur Jugendliche profitieren, sondern auch Erwachsene, die mit dem Thema oft selbst überfordert sind. Es ist wichtig, das Gesehene richtig einordnen zu können und zu wissen, mit wem man sich darüber austauschen kann und darf. Gleichzeitig wäre ein medialer Diskurs hilfreich, der fundierter, unaufgeregter und faktenbasierter ist.

STANDARD: Welche Präventions- und Interventionsstrategien könnten hier effektiv sein?

Lachner: Aufklärung und sexuelle Bildung, Medienkompetenzförderung, Säkularisierung. Im zwischenmenschlichen Umgang, zum Beispiel in Freundschaften oder Beziehungen, kann man das Thema ruhig einmal ansprechen, wenn sich alle Beteiligten damit wohlfühlen. Kinder, die alt genug sind, um ein eigenes Handy oder Tablet zu bedienen, müssen darauf vorbereitet sein, dass ihnen solche Bilder begegnen könnten, und das gemeinsam mit einer erwachsenen Person einordnen. Meiner Erfahrung nach ist der Gesprächsbedarf aber in allen Altersgruppen riesig.

STANDARD: Gibt es Unterschiede im Suchtverhalten zwischen verschiedenen Altersgruppen?

Lachner: Medial gibt es ja diese große Sorge im Hinblick auf eine sexuell verwahrloste "Generation Porno", der Realitätsabgleich mit den Statistiken zu Jugendsexualität zeigt aber eher das Gegenteil: Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben Jugendliche immer später Sex, über die Hälfte nennt das "Warten auf den Richtigen oder die Richtige" als Grund dafür. Bei der Ausprägung von Verhaltenssüchten gilt jedoch generell: Je jünger der oder die Betroffene ist, desto ungünstiger. In der Regel entwickelt sich das Verhalten nicht plötzlich, sondern über Monate oder Jahre.

STANDARD: Wie können Partnerinnen und Partner von Betroffenen am besten unterstützen?

Lachner: Verständnis, aber auch eigene Grenzen aufzeigen, Besuch einer gemeinsamen Paartherapie oder Beratung, sich weiterbilden. Da der Pornonutzungsstörung ein individueller Leidensdruck vorausgehen muss, liegt es aber vor allem an den Betroffenen selbst, sich Hilfe zu suchen.

STANDARD: Welche Ressourcen stehen Menschen zur Verfügung, die Hilfe bei der Bewältigung ihrer Pornonutzungsstörung suchen?

Lachner: Zur Psychoedukation bietet sich zum Beispiel der Pornoführerschein von Madita Oemig an oder ihr Buch Porno – eine unverschämte Analyse. Leider gibt es auch deutlich weniger fundierte Angebote, beispielsweise von Männercoaches, die "no fap", also die komplette Abstinenz von der Selbstbefriedigung predigen, was nicht nur unwissenschaftlich ist, sondern auch sinnlos. Ansonsten sehe ich eine Versorgungslücke im staatlichen Beratungsangebot: Zu Spiel- und Drogensüchten gibt es diverse niederschwellige Anlaufstellen. Menschen die sich betroffen fühlen, können sich an Sexualberatungsstellen wie die Courage wenden oder mit einer Sexualtherapeutin oder einem Sexualtherapeuten oder einer Sexualberaterin oder einem Sexualberater arbeiten. (Alexander Amon, 1.7.2024)