Wer der Premier und wer der Herausforderer ist, war beim letzten britischen TV-Duell gar nicht so offenkundig.
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Eine Woche vor der Wahl zum Unterhaus haben viele Briten von Politik die Nase voll – diese vielfach gehörte Meinung bestätigte am Mittwochabend das Publikum des zweiten und letzten Fernsehduells. Der konservative Amtsinhaber Rishi Sunak sei ja ein "ziemlich mittelmäßiger Premierminister", teilte ein älterer Mann mit. Und bei Herausforderer Keir Starmer habe man den Eindruck, dieser hänge "an den Fäden von mächtigen Gestalten in der Labour-Party". Seien diese beiden wirklich "das Beste, was unser großartiges Land zu bieten hat"? Starker Applaus.

Die Mischung aus Beschimpfung und lächerlicher Verschwörungstheorie ließ BBC-Moderatorin Michal Hussain im Hörsaal der Universität Nottingham Trent ebenso klaglos durchgehen wie das rüpelhafte Benehmen des Premierministers. Unermüdlich fiel Sunak dem Oppositionsführer ins Wort, bezichtigte Starmer der Unwahrheit, betätigte sich als Wadlbeißer, gefiel sich in der Pose des Angreifers.

Keine "Supermehrheit"

Die Tory-Strategen hatten dem 44-Jährigen einen neuen Slogan auf den Weg gegeben, den Sunak bei jeder Gelegenheit verwendete: Die Zuschauer sollten das Land "nicht der Labour-Party übergeben" ("don’t surrender to the Labour Party"). Die emotionale Wortwahl – im Krieg steht ein "surrender" für die Kapitulation – knüpft an die jüngste Wahlkampftaktik der Regierungspartei an: Der kommende Donnerstag dürfe keine "Supermehrheit" bringen.

Dabei hat der aus Amerika stammende Begriff im parlamentarischen System Großbritanniens keine Bedeutung: Eine Regierung mit gerade einmal solider Mehrheit der Mandate im Unterhaus kann schalten und walten, wie sie will. Dazu bedarf es keines Erdrutschsiegs, wie ihn die Meinungsforscher vorhersagen.

Niederlage eingrenzen

Sunak hielt an der Strategie fest, die seit seiner verregneten Wahlankündigung Ende Mai erkennbar ist: Anstatt an das ganze Land zu appellieren, wie es das Mehrheitswahlrecht Großbritanniens für einen Sieg zwingend erfordert, hat er ausschließlich die ältere, rechtsstehende Tory-Stammwählerschaft im Visier. Die in allen Umfragen vorhergesagte Niederlage einzugrenzen bleibt sein Ziel.

Starmers Aufgabe bestand darin, nicht zu verlieren – so hatte es der altgediente Labour-Stratege Lord Stewart Wood vorab formuliert. Eine Blitzumfrage von Yougov sah den Herausforderer sogar mit 56 zu 44 Prozent vorn. Wobei die Funktionsbeschreibung als Herausforderer den 75 Minuten von Nottingham nicht entspricht: Als solcher gebärdete sich der Amtsinhaber, während Starmer wie ein Regierungschef auftrat.

14 Jahre Tory-Regierung

"Wer hatte denn die Verantwortung?", lautete Starmers rhetorische Frage an den Premierminister. Sunak stehe in der Pflicht, so die Argumentation, für die gesamten 14 Jahre konservativer Herrschaft, also auch für die Versäumnisse seiner zwei Vorgängerinnen (Theresa May, Liz Truss) und zwei Vorgänger (David Cameron, Boris Johnson).

Erkennbar verabscheue der 61-Jährige diese Art von Gladiatorenduell, analysierte der Meinungsforscher Luke Tryl von der Firma More in Common. Das hinderte Starmer nicht, anders als bei der vorangegangenen Begegnung zu Monatsbeginn diesmal mehrfach die Blutgrätsche einzusetzen. Gleich in den ersten Minuten, als es um Integrität in der Politik ging, erinnerte er das Publikum an Sunaks Covid-Bußgeld – kein fairer Vorwurf, wenn man bedenkt, dass der Finanzminister im Juni 2020 ahnungslos in die spontane Geburtstagsfeier des damaligen Premiers Boris Johnson geraten war. Aber wer schert sich schon um Details?

Wettskandal der Tories

Ganz gewiss nicht Sunak, dem es von Anfang an nur darum ging, seine vorgestanzten Formulierungen unters Volk zu bringen. Dazu gehörte auch seine Reaktion auf die allererste Publikumsfrage: "Wie wollen Sie das Vertrauen in die Politik wiederherstellen?" Das bezog sich auf einen schwelenden Skandal, der den Tories das Leben erschwert: Eine Reihe von Kandidaten und Funktionsträgern – die Rede ist von mehreren Dutzend – hat Wetten sowohl auf den Termin wie auf den Ausgang der Wahl abgeschlossen. Teilweise werden dabei Insiderinformationen vermutet. Er sei ebenso "zornig und enttäuscht" wie die Fragestellerin, beteuerte Sunak, ehe er umgehend wieder auf sein Gegenüber eindrosch.

Sunak habe wohl "eine Wette darauf abgeschlossen", wie häufig er seinen Gegner unterbrechen könne, höhnte darauf Starmer und erntete später Riesenapplaus mit dem brutalen Satz: "Wenn Sie den Leuten ein wenig genauer zuhören würden, wären Sie nicht so weltfremd." Das spielte auf den gewaltigen Reichtum des Premierministers an, dessen Familie über deutlich mehr Vermögen verfügt als König Charles III.

Altbekannte Argumente

Bei den diskutierten Themen – den Missständen im Gesundheitssystem NHS, der Wohnungsnot, dem Umgang mit Transgender-Menschen – kamen wenig mehr als altbekannte Argumente zum Vorschein. Charakteristisch für die wenig erhellende Debatte war vor allem der langdauernde Streit über die Einwanderung, die beiden Parteien zufolge viel zu hoch liegt. Keiner der beiden Kontrahenten hielt es für nötig, zwischen politisch Verfolgten und sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden, obwohl die Hauptherkunftsländer der "illegalen" Einwanderer (Iran, Afghanistan, Sudan) zur Sprache kamen.

Sunak pries erneut sein Ruanda-Modell, also die Abschiebung jener zehntausenden Menschen, die jährlich in winzigen Schlauchbooten über den Ärmelkanal setzen, als probates Mittel. Dabei hat das zentralafrikanische Land jenseits der vagen Angabe "einige Hundert" bisher keine Zusage gemacht. Starmer wies auf jene mehr als 100.000 Menschen hin, deren Asylanträge nach einem neuen Tory-Gesetz nicht einmal mehr bearbeitet werden. Wie er mit dem gewaltigen Stau umgehen werde, darauf hatte umgekehrt der Oppositionsführer keine Antwort. (Sebastian Borger aus London, 27.6.2024)