Um zu verhindern, dass ein behindertes Familienmitglied umgebracht würde, schrieb die Frau den Euthanasiearzt persönlich an. Es folgte ein persönliches Treffen der beiden. Der Arzt gab im Rückblick zu Protokoll: "Einige Wochen später besuchte ich sie und von dem Augenblick an entwickelte sich zwischen uns ein freundschaftliches Verhältnis, das mit der Zeit in ein intimes überging." Die beiden verlobten sich und schmiedeten Heiratspläne. Aber dieses Vorhaben wurde von "oberster Stelle" vereitelt.

Bei dem Arzt handelte es sich um Erwin Jekelius, und die junge Frau war Paula Hitler, die einzige Schwester von Adolf Hitler. Warum er seiner jüngeren Schwester das Eheglück verwehrte, ist unklar. Gewiss ist allerdings, dass Hitler den Arzt verhaften ließ. Er musste sich verpflichten, die Verbindung mit Paula Hitler abzubrechen, und wurde an die Ostfront strafversetzt. Belegt ist außerdem, dass Aloisia Veit, die psychisch gestörte Großcousine, trotz der Bemühungen am 14. Dezember 1940 im Schloss Hartheim in Oberösterreich vergast wurde.

Paula Hitler
Paula Hitler, die bis zu ihrem Tod unverheiratet bleiben sollte, in späteren Jahren.
imago/United Archives Internatio

Wer war dieser Arzt? Erwin Jekelius wurde am 5. Juni 1905 in Hermannstadt, Siebenbürgen, geboren. Ab 1925 studierte er an der Universität Wien Medizin, wo er 1931 die Doktorwürde erlangte. 1933 wurde er illegales und 1938 legales Mitglied der NSDAP; später kamen zahlreiche weitere Mitgliedschaften in NS-Organisationen hinzu.

Seine medizinische Karriere profitierte davon: Nach mehreren Anstellungen als Hilfs- und Assistenzarzt in diversen Wiener Institutionen bewarb sich Jekelius im Austrofaschismus um eine Stelle als Anstaltsarzt für die Wiener Landes- und Pflegeanstalt "Am Steinhof", die er im März 1936 antrat. 1938 erhielt er den Facharzt für Nervenheilkunde. Nach dem "Anschluss" fungierte er als SA-Arzt, tat sich als "fanatischer Nationalsozialist" hervor und übernahm 1939 die Leitung der Heilanstalt "Am Steinhof", heute offiziell: Otto-Wagner-Areal.

Mitverantwortlich für Kindermord

Im Juli 1940 wurde Jekelius in der ebenfalls auf diesem Areal angesiedelten Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" zum ärztlichen Direktor ernannt. Kurz darauf erfolgte seine Bestellung als Wiener Beauftragter für die Durchführung der Aktion T4. Diese Initiative der Nazis hatte das Ziel‚ Personen aus Heil- und Pflegeanstalten – in der NS-Terminologie "Ballastexistenzen" – zu ermorden, um freie Betten für verwundete Soldaten zu schaffen und die Ausgaben für die Pflege "unnützer Esser" einzusparen. Insgesamt forderte die Aktion T4 etwa 300.000 Menschenleben.

Jekelius wurde nach Berlin beordert, wo Viktor Brack ihn anwies, "dass man unverzüglich mit dem Einschläfern der Kranken beginnen müsse, ohne weitere Instruktionen abzuwarten". Jekelius zeichnete dafür verantwortlich, dass in der Folgezeit unter seiner Leitung in der Anstalt "Am Spiegelgrund" mindestens 789 behinderte beziehungsweise verhaltensauffällige Kinder durch Verabreichung von Schlafmitteln, durch Mangelernährung oder durch Unterkühlung umgebracht wurden.

Erwin Jekelius
Erwin Jekelius war einer der Hauptverantwortlichen für die Aktion T4 in Österreich.
Gemeinfrei

Um die Kindermorde zu vertuschen, schickte Jekelius nach vollbrachter Tat Trostbriefe mit fingierten Todesursachen an die Eltern: "Wie wir Ihnen bereits telegrafisch mitgeteilt haben, ist Ihr Kind am 20.9.1940 an einer Lungenentzündung in der hiesigen Anstalt verstorben. Die Anstaltsleitung spricht Ihnen ihr herzlichstes Beileid aus. Zum Trost möge Ihnen gereichen, dass die eingehenden Untersuchungen bei dem Kinde ergeben haben, dass es sich bei ihm um einen hochgradigen angeborenen Schwachsinn mit unheilbarer Lähmung handelte. Nach Aussage erstklassiger Fachärzte, die das Kind begutachteten, bestand nicht die geringste Aussicht (...)."

Gutachter für die Aktion T4

Die Psychiater machten sich aber auch noch auf andere Weise im Rahmen der Aktion T4 schuldig: Man erfasste alle behinderten Kinder und schickte entsprechende Formulare an die Berliner Zentrale. Dort wurden diese Akten von T4-Gutachtern beurteilt, die über Leben und Tod dieser Patienten zu entscheiden hatten. Insgesamt wurden 4432 Meldungen vom Steinhof und 3906 Meldungen von anderen Wiener Anstalten an die "T4-Zentrale" übersandt. In den allermeisten Fällen fiel das Urteil der T4-Gutachter negativ aus.

Das bedeutete, dass die Kinder dann – oft über Zwischenstationen – in die Vergasungsanstalt Hartheim transportiert wurden, wo man sie tötete – so wie auch die Großcousine der Hitler-Geschwister. Jekelius gab später zu Protokoll: Es "wurden die Kranken in Autos bzw. mit dem Zug gebracht. Sie wurden zunächst in den Räumen der dortigen Heilanstalt untergebracht, bis die SS-Leute sie in einen speziellen Raum brachten, in den Kohlenmonoxid geleitet wurde, ein Gas, von dem die Menschen schnell ohnmächtig wurden und starben (...). Mir ist bekannt, dass aus der Heilanstalt Steinhof etwa 3000 Personen zur Vernichtung geschickt wurden und weitere 1000 aus der Zweigstelle der Heilanstalt in Ybbs."

Spritze mit Gift

Trotz der Versuche, die Morde geheim zu halten, ahnten oder wussten weite Teile der Bevölkerung, was am Steinhof vor sich ging. Dies nicht zuletzt, weil der Text eines Flugblatts der Alliierten dies 1941 unverblümt darstellte: "In den Gängen des Steinhofs, der Wiener Irrenanstalt, geistert Dr. Jekelius im weißen Ärztemantel mit einer Spritze. Er bringt den Kranken nicht neues Leben, sondern den Tod. Die Spritze enthält Gift, das in ein paar Stunden wirkt. Er verabreicht sie oft."

In seiner Funktion als Gutachter der Aktion T4 beurteilte Jekelius Meldebögen von Patienten und verurteilte so Tausende zum Tod. Er arbeitete ferner an einem "Euthanasiegesetz" mit, dessen Text im Oktober 1940 fertiggestellt wurde. Der entscheidende Paragraf lautete wie folgt: "Das Leben eines Menschen, welcher infolge unheilbarer Geisteskrankheit dauernder Verwahrung bedarf, und der im Leben nicht zu bestehen vermag, kann durch ärztliche Maßnahmen unmerklich schmerzlos für ihn vorzeitig beendet werden." Das Gesetz erlangte jedoch keine Rechtsgültigkeit; Hitler befürchtete internationale Opposition und wollte es daher erst nach dem Endsieg ratifizieren.

Jekelius wurde zum Jahreswechsel 1941/1942 von seinem Direktorenposten am Spiegelgrund entbunden. Der deutsche Psychiater Ernst Illing, der nach dem Krieg wegen Verabreichung todbringender Medikamente in etwa 200 Fällen zum Tode verurteilt wurde, übernahm seine Nachfolge. Für Jekelius war damit die Beteiligung an der Aktion T4 beendet.

Entlassung und Gefangennahme

Nach seiner Entlassung durch eine Intervention von höchster Stelle wurde Jekelius Anfang 1942 Truppenarzt an der Ostfront, wo er erkrankte. Es folgte ein neunmonatiger Lazarettaufenthalt. Danach diente er als Militärarzt in Wien, Neapel, Russland und wieder Wien. Bei Kriegsende lebte er als Zivilist in Wien und wurde dort am 15. Mai 1945 von der Polizei festgenommen. Zusammen mit weiteren Ärzten, die am Spiegelgrund tätig gewesen waren, wurde er dann von der Staatsanwaltschaft Wien wegen der Ermordung von Patienten angeklagt. Allerdings war Jekelius zu diesem Zeitpunkt bereits aus Wien geflohen.

Wenig später verhafteten ihn Soldaten der Roten Armee. Am 28. Juli 1948 wurde er in Moskau wegen "persönlicher Beteiligung an der Vernichtung von mehr als 4000 psychisch und geistig kranken Menschen" angeklagt. Jekelius zeigte sich geständig und gab zu Protokoll: "Insgesamt wurden mit meiner Beteiligung über 4000 Menschen getötet." Ferner belastete er den Wiener Mediziner und Psychiater Heinrich Gross schwer: "Nach dem Eintreffen von Dr. Gross (1941, Anm.) begannen wir in unserer Klinik mit der Vernichtung der Kinder (…) mein Gehilfe Dr. Gross hatte einen praktischen Lehrgang zur Tötung von Kindern absolviert. Monatlich töteten wir zwischen 6 und 10 Kinder (...). Dr. Gross arbeitete unter meiner Leitung. Die Tötung der Kinder nahm er auf der Grundlage seiner Erfahrungen und Instruktionen vor." In diesen Protokollen, die erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts auftauchten, berichtet der T4-Täter auch von seiner Beziehung zu Paula Hitler.

Verschiedene Nachleben

Jekelius wurde für schuldig befunden und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er verstarb am 8. Mai 1952 in einem sowjetischen Arbeitslager an Blasenkrebs. Gross dagegen gelang es nach 1945, Karriere als Psychiater und Gerichtsgutachter zu machen, hohe Ehrungen zu erhalten und trotz wiederholter Vorwürfe seiner Strafe zu entgehen. Als ihm der Prozess gemacht wurde, war es zu spät. Immerhin ging er noch zu Lebzeiten des Österreichischen Ehrenkreuzes für Kunst und Wissenschaft I. Klasse verlustig, das ihm 1975 verliehen worden war.

Und was wurde aus Paula Hitler? Sie hat auf Anordnung ihres Bruders den Kontakt zu Jekelius abgebrochen, blieb unverheiratet, scheute auch nach Kriegsende das Rampenlicht und führte ein sehr zurückgezogenes Leben. Befragt über Hitlers Gräueltaten, meinte sie auch noch nach dem Krieg, dass ihr Bruder so etwas nie getan hätte. Sie starb 1960 im Alter von 64 Jahren in Berchtesgaden. (Edzard Ernst, 30.6.2024)