Gewessler sitzt an einem Tisch.
Im Interview mit dem STANDARD hat Leonore Gewessler auf Alleingänge des Landwirtschaftsministers Norbert Toschnig bei der Agrarpolitik verwiesen.
Heribert Corn

Durfte Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne) in Luxemburg eigenhändig für das Renaturierungsgesetz stimmen? Ohne Einverständnis des Koalitionspartners? Unter Juristinnen und Juristen ist darüber vergangene Woche eine intensive Debatte ausgebrochen. Die ÖVP wird vom Verfassungsdienst gestützt, Gewessler legte wiederum eigene Gutachten vor.

In Interviews – zuletzt mit dem STANDARD – brachte die Ministerin ein weiteres Argument ins Spiel: Auch die ÖVP habe in der Vergangenheit eigenhändig und ohne Einbindung der Grünen im EU-Rat abgestimmt – zum Beispiel bei Abstimmungen zur EU-Agrarpolitik. Aber sind die Fälle tatsächlich vergleichbar?

Einvernehmen der Regierung?

Laut Verfassungsdienst hätte Gewessler dem Renaturierungsgesetz wegen des Bundesministeriengesetzes nicht zustimmen dürfen. Dieses Gesetz regelt die Zuständigkeiten unter den Regierungsmitgliedern: Demnach muss eine Ministerin das Einvernehmen mit anderen Ministern herstellen, wenn deren Zuständigkeitsbereich ebenfalls betroffen ist. Beim Renaturierungsgesetz sei das der Fall gewesen, weil inhaltlich auch der Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) zuständig gewesen sei, so das Argument. Ob ein konkretes Gesetz mehrere "Kompetenzbereiche" erfasst, ist freilich oft umstritten.

Und im Fall von Totschnigs angeblichem Alleingang ohne Grüne? Gerade im Bereich der Agrarpolitik hätte man wohl durchaus argumentieren können, dass bei bestimmten Abstimmungen der Zuständigkeitsbereich von Umweltministerin Gewessler betroffen ist. In diesem Fall hätte sich Totschnig im Vorfeld der Abstimmungen mit Gewessler akkordieren müssen. Doch das bleibt nicht unwidersprochen: Verfassungsrechtler Christoph Bezemek sah das in einem Gutachten für das ÖVP-geführte Landwirtschaftsministerium kürzlich anders. Letztlich ist die Rechtslage hier oft nicht völlig eindeutig, weil mehrere Interpretationsmöglichkeiten offenstehen.

Einvernehmen mit Bundesländern?

Die Frage, ob sich Gewessler mit anderen ÖVP-Ministern hätte abstimmen müssen, ist freilich nur ein Aspekt der Causa. Der zweite: die berühmt-berüchtigte einheitliche Stellungnahme der Bundesländer. Laut dem Verfassungsdienst hätte Gewessler auch ihretwegen nicht zustimmen dürfen. Der Hintergrund: Wenn Österreichs Bundesländer von einem EU-Gesetzgebungsakt betroffen sind, können sie eine einheitliche Länderstellungnahme abgeben und der Ministerin verbieten, im EU-Rat zuzustimmen. Das war beim Renaturierungsgesetz der Fall. Fraglich ist, ob die einheitliche Länderstellungnahme nach wie vor verbindlich war, weil die Wiener Landesregierung ihre Ablehnung des Renaturierungsgesetzes einseitig zurückgezogen hat.

In diesem Fall gibt es ebenfalls ein Beispiel aus der Vergangenheit, in dem ein ÖVP-Minister ähnlich gehandelt hat – auch wenn die Abstimmung von weitaus geringerer politischer Brisanz war. Im Jahr 2017 stimmte der damalige Wirtschaftsminister und heutige Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer (ÖVP) für einen Kompromisstext beim sogenannten Dienstleistungspaket, obwohl es eine einheitliche Länderstellungnahme gab. Dabei ging es um die Frage, inwieweit nationale Gesetze die Dienstleistungsfreiheit in der EU einschränken dürfen.

Unklare Mitwirkung der Länder

Auch hier war fraglich, ob die Länderstellungnahme noch für den Minister verbindlich war, obwohl sich der Gesetzestext im Zuge der Verhandlungen verändert hatte. Das Föderalismus-Institut, ein Forschungszentrum, das von den Bundesländern getragen wird, sah die Zustimmung Mahrers damals als unzulässig an. In einem Bericht des Instituts hieß es, dass im Zuge der EU-Abstimmung einige Vorschläge der Länder in den Text eingeflossen sind, weitere zentrale Kritikpunkte jedoch nicht aufgenommen wurden. Zudem sei eine "Bindungswirkung bezüglich der verbleibenden Länderforderungen infrage gestellt" worden.

Verfassungsrechtler Peter Bußjäger erklärte im Ö1-Morgenjournal, dass der Fall Mahrer anders gelagert sei als die heutige Causa Gewessler. Denn vom damaligen Dienstleistungspaket waren die Länder weniger stark betroffen als vom heutigen Renaturierungsgesetz. Das Beispiel zeigt laut Bußjäger dennoch, dass die Mitwirkung der Länder an EU-Entscheidungen in der Vergangenheit "zuweilen problembehaftet war". Grund dafür ist wohl, dass nicht explizit geregelt ist, wie von Länderstellungnahmen wieder abgewichen werden kann. Jurist Bezemek wünschte sich im STANDARD kürzlich eine rechtliche Klarstellung. "Der Umstand, dass sich gerade keiner auskennt, zeigt aus rechtsstaatlicher Sicht die Notwendigkeit einer Reform." (Jakob Pflügl, 27.6.2024)