Marcel Sabitzer pflegt den abgeklärten Jubel. "Im Fußball geht es oft schnell, da hast du Ups und Downs", sagt er.
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Der Pass von Christoph Baumgartner kam durch eine sich schließende Lücke in der Verteidigung. Links vom Strafraum gestartet, rannte Marcel Sabitzer diagonal zum Tor, nahm das perfekte Zuspiel an – und verzögerte. Er las das Spielfeld, sah, dass der Gegner im Zentrum in Überzahl war. "Na dann", sagte er sich, "ziehe ich eben selbst ab."

Sabitzers wuchtiger Schuss in der 80. Minute entschied das spektakuläre Treffen mit den Niederlanden, Österreichs Nationalteam fixierte mit dem 3:2 nicht nur das Achtelfinale, sondern holte gar den Gruppensieg. "Der linke Fuß hat mich in der Vergangenheit selten im Stich gelassen", sagte Sabitzer in steirischer Diskretion nach der Partie. Mit jenem linken Fuß schoss er Dortmund vor zwei Monaten ins Viertelfinale der Champions League. Da war ihm von der Strafraumgrenze das 4:2 gegen Atlético Madrid gelungen.

Gegen die Niederlande hatte Sabitzer schon im Moment der Ballabgabe gespürt, dass der Schuss Erfolg haben dürfte. Den Treffer feierte er, indem er mit den Händen seine Oberarme streichelte. "Ich hab ihn eiskalt reingemacht", sagte er. Seine Teamkollegen würden ihm "sehr viel Halt" geben, "dadurch kann ich befreit spielen". Und ein befreiter Sabitzer tut dem Team gut. Nach dem Match wurde er als Spieler des Spiels ausgezeichnet.

Taktgeber, der alles spielt

In der Mannschaft von Trainer Ralf Rangnick nimmt Sabitzer eine Schlüsselposition ein. Er ist der Taktgeber, in vielen Angriffen direkt involviert als Empfänger des Aufbauspiels der Verteidigung und als Passgeber im Angriffsdrittel. Der Guardian analysiert mit Blick auf Sabitzers vergangene Station im Klubfußball: "Rangnick und Sabitzer vollbringen Wunder, und was bei Manchester United nicht funktionierte, läuft bei den beiden anderswo wie am Schnürchen."

Der 30-Jährige ist im Mittelfeld vielseitig einsetzbar: als defensive Option, als offensiver Zehner oder auf den Flügeln. "Ich fühle mich auf jeder Position wohl", sagt Sabitzer, weil er sich gut anpassen könne. Nachsatz in seinem inzwischen typischen Bundesdeutsch: "Ich lauf gerne überall rum." Er liest das Spiel gut, erkennt freie Räume und auch belegte wie vor dem 3:2 gegen die Niederlande. "Sein Niveau ist konstant, durchsetzt mit Phasen von Brillanz", sagte einmal sein Ex-Coach Julian Nagelsmann: "Du weißt genau, was du von ihm bekommst: eine gute Gier, ein sehr gutes taktisches Verhalten, die Fähigkeit, die letzten 20 Minuten nochmal was draufzupacken, wenn es vonnöten ist."

Sabitzers wuchtiger Schuss vorbei an Verteidiger van de Ven und Torhüter Verbruggen.
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Rangnicks "Trick" brachte Sabitzer nach Salzburg

Marcel Sabitzer kam über seinen Vater zum Fußball. Papa Herfried war jahrelang Bundesliga-Profi, ein Knipser, der auf sechs Länderspiele kam. Marcel sah in jungen Jahren viel von Österreich: Er begann bei der Villacher Admira, wechselte früh in die Jugendabteilung des GAK. Mit der Sporthauptschule Weiz gewann er die Schülerliga und sagte im ORF-Interview, dass er bald in der Bundesliga spielen wolle. Und er hoffe, dass "ich dann ins Auslond hoit a no komm."

Sein Bundesliga-Debüt gab er für die Mödlinger Admira, durch seine Gefahr in der Offensive wurde Rapid auf ihn aufmerksam. In Erinnerung blieb Sabitzer in Hütteldorf vor allem für seinen Abgang, der mit einem Trick von Rangnick zu tun hatte. In Sabitzers Vertrag bei Rapid war eine Ausstiegsklausel in Höhe von zwei Millionen Euro vermerkt, die allerdings nur für ausländische Klubs galt. Man wollte in Wien wohl verhindern, dass er von Salzburg abgeworben wird.

Rangnick, damals Sportdirektor bei Salzburg, aber auch bei RB Leipzig, verpflichtete Sabitzer für Deutschland, um ihn tags darauf zur österreichischen Dependance zu verleihen. "Wohlgefühlt habe ich mich damit nicht", sagte Sabitzer Jahre später dem Spiegel. "Ich habe damals echt kurz überlegt, das Ganze abzubrechen, weil ich wusste, dass viel Gegenwind kommen kann. Aber sportlich gesehen hat es sich letztlich ausgezahlt." Rapids Sportdirektor Andreas Müller klagte über einen Transfer mit "G’schmäckle".

Angelerntes Mentalitätsmonster

Sabitzer wechselte nach einer Saison zu Leipzig, in den sechs Jahren beim Verein aus Sachsen stieg er zum Kapitän auf. Noch am Dienstag erzählte Sabitzer mit Hinblick auf das EM-Achtelfinale: "Grundsätzlich ist es mir egal, wo gespielt wird, aber meine letzten Empfänge in Leipzig waren sehr negativ behaftet. Ich wurde dort immer ausgepfiffen und weiß eigentlich nicht, warum, weil ich bei Leipzig immer meine Leistung gebracht habe." Im Sommer 2021 war Sabitzer von Leipzig zu den Bayern gewechselt, was ihm die RB-Fans offenkundig übel nahmen.

Zunächst suchte er sein Glück in München, dann bei Manchester United (mit Trainer Rangnick), fand es aber in der vergangenen Saison bei Borussia Dortmund, wo er sich als Stammspieler etablierte.

Sabitzer möchte sich später einmal nichts vorwerfen. Er gilt als Mentalitätsmonster, das hat auch mit den Erfahrungen seines Vaters zu tun. Marcel attestiert Herfried Sabitzer eine "50:50-Mentalität" als Profi. Für ihn "wäre mehr möglich gewesen", ist sich Marcel Sabitzer sicher, aber der Vater habe sich abseits des Platzes zu viel ablenken lassen – speziell wenn es gut lief. Dadurch habe er eine Karriere auf Weltklasse-Niveau verpasst. Er habe ausschließlich die positiven 50 Prozent der Mentalität seines Vaters geerbt, sagt der Sohn. Und bloß 50 Prozent von dessen Talent. "Für den Rest muss ich hart arbeiten."

Rangnick brachte das ÖFB-Team dazu, nach Ballverlust "sofort auf Balljagd" zu gehen, sagt Sabitzer.
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Mutiges Bekenntnis

Im Vorfeld der EM sprach Sabitzer offen davon, in ein "mentales Loch" gefallen zu sein. Er hatte mit einer bitteren Niederlage aus dem Champions-League-Finale gegen Real Madrid zu kämpfen, musste in den vergangenen Wochen zudem einen Todesfall in der Familie verarbeiten. "Wir sind Profisportler, aber auch Menschen. Gefühle kann man nicht verbergen oder unterdrücken", sagte er in der Vorbereitung. "Im Fußball geht es oft schnell, da hast du Ups und Downs. Das ist normal, denke ich. Die Frage ist, wie du damit umgehst." Er verzichtete in Absprache mit dem Trainerteam auf Einsätze in den Testspielen. Dass Sabitzer als gestandener Profi mentale Schwächephasen zugibt, die in der rasanten, gewinngetriebenen Fußballwelt als marktwertmindernd vermerkt werden könnten, brachte ihm viel Anerkennung.

Unter Rangnick ist das Team mit Sabitzer als Führungsspieler zu einer für ihr Umschaltspiel und ihr Pressing gefürchteten Mannschaft gereift. "Seit er hier ist, sieht man eine klare Entwicklung", sagt Sabitzer. "Wir waren davor etwas passiv gegen den Ball, das haben wir verändert. Er hat reingebracht, dass wir sofort nach Ballverlust auf Balljagd gehen, das ist wahrscheinlich der größte Unterschied." Die Herangehensweise von Österreichs Fußballern unter Rangnick: "Wir arbeiten sehr hart, aber wir feiern auch sehr gut."

Das Streben nach einem Lauf

Was ist für das Team bei der EM noch möglich? In der K.-o.-Phase könne man sich gut und gerne in einen Lauf spielen, findet Sabitzer. "Wir haben die Qualität, dass wir jeden Gegner schlagen können, aber es wird ein sehr schwerer Weg."

Der Ast, auf dem sich Österreich nun befindet, ist der vermeintlich einfachere. Die Titelkandidaten Spanien, Portugal, Deutschland und Frankreich befinden sich im Raster auf der anderen Hälfte, auf sie könnte das ÖFB-Team erst in einem möglichen Finale treffen. Am Dienstag steht in Leipzig das Achtelfinale gegen die Türkei an. Zeit genug, um dazwischen auch zu feiern. (Lukas Zahrer, 27.6.2024)