Formal sind in der Europäischen Union alle 27 Mitgliedsstaaten gleich, aber in der Lebenswirklichkeit der Gemeinschaft gibt es dennoch große Unterschiede. Die beiden größten und wirtschaftlich wichtigsten Mitgliedsstaaten sind Deutschland und Frankreich, zugleich auch die beiden entscheidenden Gründungsmitglieder. Ihr ständiger Streit und ihre Erbfeindschaft hatte Europa in zahllosen Kriegen zerrissen und schließlich auf den Tod geschwächt.

Nach der totalen Niederlage Deutschlands und seiner Teilung im Jahr 1945 ergab sich mit dem verkleinerten Westdeutschland und unter US-amerikanischem Schutz eine Möglichkeit zur Aussöhnung zwischen den beiden Erbfeinden und zur Schaffung einer westeuropäischen Friedensordnung.

Macron nach links blickend
Setzt auf Neuwahlen: der französische Präsident Emmanuel Macron.
Foto: Imago / Stephane Lemouton / Bestim

Die Europäische Union wurde im Jahr 1957 mit den Verträgen von Rom gegründet, nicht nur um den wirtschaftlichen Wiederaufbau des kriegszerstörten Westeuropas zu beschleunigen, sondern vor allem auch um eine (west)europäische Friedensordnung zu schaffen, unter Einschluss der damals geteilten ehemaligen Feindnation Deutschland. Es galt, Westdeutschland dauerhaft in den Westen zu integrieren und so den wichtigsten Kriegsgrund in Europa, die deutsch-französische Erbfeindschaft, ein für alle Mal zu eliminieren.

"Frankreich ist eines von zwei unverzichtbaren Ländern für das Gelingen der Europäischen Union. Das zweite ist Deutschland. Bricht auch nur eines dieser beiden Länder weg, so ist es um die Zukunft der EU geschehen."

Dazu bedurfte es dieser beiden Nationen, Deutschland und Frankreich, und insofern ist es keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass das Gebäude der EU auf der Aussöhnung dieser beiden ehemaligen Erbfeinde ruht. Mit den jüngsten Europawahlen und der daraufhin erfolgten Auflösung des französischen Parlaments durch den großen Wahlverlierer, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, stellt sich ein weiteres Mal in ihrer Geschichte die Schicksalsfrage für die EU nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 und dem Scheitern der Europäischen Verfassung durch Frankreich 2005: Was wollen die Französinnen und Franzosen?

Ausgerechnet jetzt, da der Krieg durch Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine nach Europa zurückgekehrt ist und eine erneute Wahl von Donald Trump im November dieses Jahres Realität werden kann. Erst Marine Le Pen und dann Trump – und was dann, Europa? Kann Europa einen solchen Zangengriff der Geschichte, in den Zeiten von Putins Krieg, unbeschädigt überstehen? Das dürfte schwierig werden.

Frankreich ist eines von zwei unverzichtbaren Ländern für das Gelingen der Europäischen Union. Das zweite ist Deutschland. Bricht auch nur eines dieser beiden Länder weg, so ist es um die Zukunft der EU geschehen. Sicher, es gibt weitere 25 Mitgliedsstaaten, und alle sind sie von Bedeutung für die Gemeinschaft, manche mehr, andere weniger. Europa kann mit einer postfaschistischen Regierung in Italien leben. Aber eine Mehrheit für die Partei Le Pens in der französischen Nationalversammlung und zwei Jahre danach eine Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen für Le Pen hätte sehr viel dramatischere Folgen. Dies würde die EU vor eine Zerreißprobe stellen und sie entscheidend schwächen. Denn die inneren Feinde Europas wie Viktor Orbán würden sich dadurch gestärkt fühlen. Und das fände in einer Zeit statt, in der sich die Welt geopolitisch und technologisch neu sortiert, in der es einer starken und keiner geschwächten EU bedürfte.

Absehbares Chaos

Frankreich könnte sich unter der Führung einer neonationalistischen Partei der Illusion eigener nationaler Stärke hingeben, Deutschland hätte, aus historischen Gründen, diese Möglichkeit nicht. In Deutschland würde deshalb ein Wahlsieg des Rassemblement National etwas anderes auslösen, nämlich eine historisch ein für allemal überwunden geglaubte Grundsatzdebatte, wohin das Land gehört: zum Westen oder doch eher zum Osten. Mit der AfD und dem Bündnis Sarah Wagenknecht haben diese politischen Kräfte in Deutschland bereits parteipolitische Gestalt angenommen und sind, zumindest in Ostdeutschland, auf dem Vormarsch.

Ein mögliches Bündnis zwischen Trump und Le Pen mit Putin im Hintergrund würde das absehbare Chaos noch dramatisch verstärken. Der Einzige, der sich darüber freuen könnte, wäre Putin, der seinem strategischen Ziel, der europäischen Hegemonie und der Wiedergewinnung des Weltmachtstatus für Russland, einen ganz entscheidenden Schritt nähergekommen wäre. Für Europa käme dies alles aber einem Rückfall in die Kleinstaaterei und einem Akt der Selbstzerstörung gleich.

Macron hat sich angesichts der weltpolitischen Lage wegen einer verlorenen Europawahl für ein ultrariskantes Spiel entschieden, an dem Europas Zukunft hängt. Wenn dieses Spiel schiefgeht, könnte es für Europa mit einem finalen "Rien ne va plus!" enden. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 27.6.2024)