In Neapel werden die Top-Pizzaioli – wie die Pizzabäcker am Fuß des Vesuvs genannt werden – verehrt und gefeiert wie Rockstars. Und so erregt es jedes Mal sehr viel Aufsehen, wenn einer von ihnen eine neue Kreation auftischt. Der 35-jährige Vincenzo Capuano, seines Zeichens Pizzaweltmeister in der Kategorie "Pizza Contemporanea" von 2022, hat dies vor einigen Monaten getan: Er belegte sein Fladenbrot mit den üblichen gestampften Marzano-Tomaten, mit Fior-di-Latte-Mozzarella, mit Salzsardellen und – um die Schärfe der "acciughe" etwas auszubalancieren – mit ... Wassermelonen.

Ein Pizzaiolo in Neapel vor seinem Ofen. Die traditionelle Margherita bekommt Konkurrenz durch zum Teil fragwürdige Kreationen.
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Er hätte das besser unterlassen. Über den Weltmeister ging ein gewaltiger, italienweiter Shitstorm hernieder; in seiner Heimatstadt Neapel wurde er als Nestbeschmutzer oder gar Verräter beschimpft, der wegen eines durchsichtigen Werbegags die sinn- und identitätsstiftende neapolitanische Nationalspeise verhunze. Einen ähnlichen Frevel hatte kurze Zeit später auch Gino Sorbillo von der gleichnamigen Kultpizzeria "Gino e Toto Sorbilla" an der Via dei Tribunali im Herzen der Altstadt Neapels begangen. Er belegte eine Pizza mit Ananas und verstieg sich zur Aussage: "Glaubt mir, das schmeckt richtig gut!" Auch Sorbillo erlebte einen landesweiten Aufschrei der Empörung: Pizza mit Wassermelone, Ananas oder auch Pommes geht für viele traditionsbewusste Italienerinnen und Italiener gar nicht, und erst recht nicht in Neapel.

Purismus

Eigentlich gibt es ja nur zwei "echte" neapolitanische Pizzas, nämlich die Marinara und die Margherita, alles andere ist in den Augen der Puristen Firlefanz. Die beiden Originale sind denkbar einfach in ihrer Zusammensetzung: Die Pizza Marinara besteht aus dem typischen Teigboden aus Weißmehl, Salz und Bierhefe und wird mit frischen Tomaten, etwas Knoblauch und Oregano belegt; außerdem gehört "un filo d'olio" dazu, also ein paar Tropfen Extra-Vergine-Olivenöl. Mozzarella dagegen hat nichts verloren auf der Marinara. Die Margherita wiederum ist die Königin der Pizzen, benannt nach der in Neapel sehr beliebten früheren Königin Margherita von Savoyen. Der Klassiker kommt in den italienischen Nationalfarben daher: Grün wie die Basilikumblätter, weiß wie der Mozzarellakäse und rot wie die San-Marzano-Tomaten.

Die Pizza Margherita ist im Jahr 2017 sogar in die Liste der immateriellen Weltkulturgüter der Unesco aufgenommen worden – oder vielmehr nicht die Pizza selbst, sondern "die Kunst der neapolitanischen Pizzaioli". Auf der Unesco-Liste finden sich Volksbräuche, traditionelle Handwerkskünste und Ähnliches: Neben der Kunst der Pizzaioli sind zum Beispiel auch die spanischen Flamenco-Tänzer, die Geigenbauer von Cremona oder auch die französische und die mediterrane Esskultur verzeichnet. Über die Einhaltung des klassischen Margherita-Rezepts wacht in Neapel seit 1984 die Associazione Verace Pizza Napoletana (AVPN) – gegründet nicht zuletzt, um die Ausbreitung von Perversionen wie der Pizza Hawaii mit Ananas oder Tiefkühlpizzen einzudämmen.

Fesseln der Tradition

Die gestrenge AVPN konnte freilich nicht verhindern, dass die Zahl der Pizzavarianten immer größer wurde. Im Gegenteil: In den letzten Jahren haben vor allem junge neapolitanische Pizzaioli wie Capuano, die ihr Handwerk noch bei ihren Vätern und Großvätern gelernt haben, die Fesseln der Tradition gesprengt und mit großer Kreativität immer neue Rezepte ausprobiert. Die neuen Kreationen laufen unter der Bezeichnung "Pizza Gourmet" oder "Pizza Gastronomica" – und werden mit Pasten aus Pinienkernen, Tartar aus sizilianischen Gamberi, Kaviar mit Limetten, Hühnerbruststreifen und feinem Rinderfilet belegt. Der Fantasie der Pizzaioli – oder auch der Sterneköche, die das Kreativpotenzial der Pizza inzwischen ebenfalls entdeckt haben – sind keine Grenzen gesetzt.

Die neue Generation dieser Pizzaioli ist sehr erfolgreich: Vincenzo Capuano, der aus dem neapolitanischen Problemquartier Scampia stammt, hat inzwischen auch in Bari, Rom, Mailand und Turin Pizzerien eröffnet; weitere in La Spezia, Amsterdam und Pristina sollen demnächst folgen. Gino und Toto Sorbillo betreiben neben ihren Lokalen in ganz Italien auch in Miami (Florida) und in Tokio Pizzerien. "Im Grunde kann man eine Pizza nach Lust und Laune belegen", betont Vincenzo Capuano. Wichtig sei lediglich, dass man hochwertige Zutaten verwende, angefangen bei den Tomaten und dem Mozzarellakäse. Und entscheidend sei letztlich der Teig: "Am besten knetet man ihn von Hand, um seine Konsistenz zu fühlen. Und er muss danach mindestens 24 Stunden, besser 48 Stunden, ruhen und aufgehen, ehe man ihn belegt und in den Holzofen schiebt."

"Pairing"

Der letzte Schrei im weiten Feld der Pizzas ist das sogenannte Pairing, also die Kombination der Pizza mit einem passenden Getränk. Bis vor kurzem waren beim Pizzagenuss auch in Italien Mineralwasser oder – häufiger – ein Bier die Standardgetränke. Notfalls ging auch ein Glas Rotwein, doch dieser taugt nicht wirklich zur Löschung des meist erheblichen Dursts, der mit dem Genuss einer Pizza einhergeht. Doch die Zeiten von profanem Mineralwasser, Bier und Wein sind inzwischen vorbei: Heute werden Pizzen mit Cocktails kombiniert. Der neue Klassiker ist – wie könnte es anders sein – die Pizza Margherita mit einer Margarita, dem berühmten Shortdrink auf Tequilabasis. Beliebt ist auch die Pizza Napoli (mit Sardellen und Kapern) mit einem Negroni, dem italienischen Cocktail aus Gin, rotem Wermut und Campari-Bitter.

Der vielleicht wichtigste Protagonist dieser neuen Pairingwelle, die Italien gerade überrollt, ist Lorenzo Sirabella. Der 30-jährige Pizzaiolo stammt ebenfalls aus Neapel und hat nach ein paar Jahren auf Ischia im Jahr 2018 in Mailand das Dry eröffnet, wo er das Format "Pizza&Cocktail" entwickelte. Sein Lokal zählt zu den trendigsten der lombardischen Metropole, seine Pizzen laut Forbes zu den zehn besten des Landes. "Zu uns kommen die Leute aber nicht in erster Linie, um eine Pizza zu essen, sondern wegen des Ambientes und der neuen Erfahrungen, die man hier machen kann", betonte Sirabella beim Festival Napoli Pizza Village.

Das Napoli Pizza Village war in der vergangenen Woche während zehn Tagen die größte Pizzeria der Welt: Auf einer Fläche von 50.000 Quadratmetern zeigten 300 Pizzaioli an Dutzenden von mobilen Holzöfen ihr Können; die tausenden Besucher konnten sich von den Pizzameistern in Workshops und Masterkursen kostenlos in die Geheimnisse der perfekten Zubereitung einweihen lassen. Gleichzeitig fand auf dem Festival das Finale der Pizzaweltmeisterschaften statt, an denen weitere 600 Pizzaioli des ganzen Globus teilnahmen. Im September wird das Napoli Pizza Village, das 2012 erstmals durchgeführt wurde und in Neapel längst zu einem der wichtigsten Kulturevents des Jahres geworden ist, auch in Mailand (4. bis 8. September) und in London (19. bis 22. September) seine Stände und Holzöfen aufbauen. (Dominik Straub aus Rom, 27.6.2024)