Der moderate Kandidat Masoud Pezeshkian, ein Herzchirurg, hat sich im Wahlkampf gemausert. Das alte Reformlager steht voll hinter ihm.
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Es kommt unerwartet, dass vor den Präsidentschaftswahlen im Iran am Freitag doch noch Spannung aufgekommen ist. Sie finden in einem vom Regime eng gesteckten Rahmen statt: Vier – vor ein paar Tagen waren es noch sechs – vom Wächterrat vorselektierte Männer rittern um den Posten des im Mai bei einem Hubschrauberabsturz zu Tode gekommenen Präsidenten Ebrahim Raisi. Aber jener Kandidat, der zuerst eher nur als kosmetische Aufhellung in einer besonders reaktionären und aggressiven Phase der Islamischen Republik wahrgenommen wurde, Masoud Pezeshkian, wurde zuletzt immer stärker.

Sahen frühere Umfragen den politisch moderaten, wenig bekannten Herzchirurgen, hinter dem sich das alte Reformlager versammelt, meist auf Platz drei hinter den Hardlinern Saeed Jalili und Mohammed Bagher Ghalibaf, so lag er bei manchen sogar vorne. Wenn er es in eine Stichwahl schafft und es ihm gelingt, einen Teil der Unzufriedenen an die Urnen zu bringen, dann hätte er reelle Chancen, meinen Experten wie Vali Nasr von der Johns-Hopkins-Universität, auch wenn das eher eine Einzelmeinung ist.

Knackpunkt Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung zu retten, nachdem der pragmatische frühere Parlamentspräsident Ali Larijani erneut nicht kandidieren durfte, das war wohl der Grund, dass Pezeshkian mit seiner Kritik an den herrschenden Verhältnissen überhaupt zugelassen wurde. Bei der Wahl des konservativen Mullahs Raisi im Jahr 2021, dem Religionsführer Khamenei alle gefährlichen Kandidaten durch den Wächterrat aus dem Weg räumen ließ, sank sie auf 48,8 Prozent. Das wäre diesmal ein guter Wert. Dazwischen liegt der von Frauen geführte monatelange, brutal niedergeschlagene Aufstand nach dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini in den Händen der Religionspolizei im September 2022.

Zwei Hardliner, ein Reformer und ein im Vergleich moderater Mullah – der einzige Geistliche unter den Kandidaten, Mostafa Pourmohammadi: Das war die Kandidatenriege vor den zwei Rückzügen, die in Iran vor Präsidentschaftswahlen durchaus üblich sind. Aus den entsprechenden Medien kam die Aufforderung, dass sich das konservative Lager auf einen Kandidaten einigen möge, um Stimmensplitting zu vermeiden. Parlamentspräsident Ghalibaf, der bereits dreimal an Präsidentenwahlen gescheitert ist, lehnte jedoch ab, das Feld für den früheren nationalen Sicherheitsberater Jalili zu räumen. Aber der Teheraner Bürgermeister Alireza Zakani und Amirhossein Ghazizadeh Hashemi, einer der Vizepräsidenten Raisis, gaben am Donnerstag ihren Rückzug von der Wahl bekannt. Sie wären ohnehin chancenlos gewesen.

Comeback Zarifs?

Das Interesse an Pezeshkian ist auch im Ausland gewachsen, seit er den früheren Außenminister und Architekten des Atomdeals von 2015, Mohammed Javad Zarif, zum außenpolitischen Berater ernannt hat. Gemeinsam verteidigen sie die Öffnungspolitik von Präsident Hassan Rohani (2013–2021), der von den Hardlinern wild angegriffen wird, wogegen er sich zuletzt auch öffentlich wehrte. Für Pezeshkian in den Ring gestiegen ist aber auch Reformpräsident Mohammed Khatami (1997–2005) in einem Video. Pezeshkian war unter ihm – lange her – Gesundheitsminister.

Aber die alten und neuen Reformer haben alle das gleiche Problem: Viele Iraner und Iranerinnen glauben nicht mehr an eine Reform, sie fühlen sich von den Reformern sogar betrogen. Sie wollen einen Systemwandel, das Ende der islamischen Ordnung, vor allem nach der Repression, die mit der Wahl Raisis in eine neue harte Phase gegangen ist. Ob Pezeshkian genügend von ihnen an die Urnen bringen kann, ist fraglich. Als Pluspunkt für ihn gilt, dass er ethnischer Azeri ist und auch einen kurdischen Familienteil hat, was ihm Stimmen bei den ethnischen Minderheiten bringen könnte.

Gerade die iranische Außenpolitik – das schlechte Verhältnis Teherans zum Westen – spielte zuletzt eine große Rolle in den Wahldebatten: Pezeshkian stellte den Nutzen von Verständigung mit dem Ausland für die Wirtschaft und damit für die Menschen im Iran in den Mittelpunkt. Dabei ist klar, dass die großen außenpolitischen Entscheidungen, wie etwa über einen Atomdeal, ganz oben, von Khamenei und seinem Apparat, getroffen werden. Die Außenpolitik der Islamischen Republik wird sich nicht ändern, wenn ein Außenseiter Präsident wird.

Gretchenfrage für Khamenei

Aber der Unterschied zwischen Jalili und Pezeshkian könnte dennoch nicht größer sein, allein schon atmosphärisch würde einen Unterschied machen, wer die Wahlen gewinnt. Die große Frage ist nun, ob Khamenei einen Wahlsieg eines Kandidaten, den das konservative nationalreligiöse Establishment – und er selbst – nicht will, zulassen würde oder noch einmal eine große Auseinandersetzung in der iranischen Gesellschaft riskieren würde wie 2009 nach der mutmaßlich gefälschten Wiederwahl von Mahmud Ahmadinejad. Was ist wichtiger für ihn: ein dringend benötigter Legitimationsgewinn für das Regime und der islamischen Ordnung angesichts der andauernden Krise seit 2022 durch diese Wahlen oder ein Präsident, wie er ihn sich wünscht, wie Jalili oder Ghalibaf? Mit Raisi hat er die ideale Figur verloren, dieser wurde ja sogar als sein möglicher Nachfolger als religiöser Führer genannt.

Manche meinen, Khamenei könnte mit Pezeshkian leben, gerade weil er schwach ist. Er ist fromm und wäre auch eine Ansage an alle, die unter der grassierenden Korruption der Eliten leiden. Zuletzt machte ein Fernsehinterview von Maryam Ghalibaf, einer Tochter des Kandidaten, von sich reden: Die Vorwürfe, sie sei von einer Shoppingtour aus der Türkei mit fast 300 Kilo Gepäck zurückgekehrt, wies sie so arrogant zurück, dass der Schuss eher nach hinten losging, berichtete Amwaj Media. Jalilis Tochter hingegen, die sich ebenfalls in die Wahlschlacht warf, konnte punkten. Pezeshkian hat sie und einen Sohn nach dem Tod seiner Frau, ebenfalls Ärztin, alleine großgezogen. (Gudrun Harrer, 28.6.2024)