"Es geht darum, was wir tun müssen, um in der Welt noch eine Rolle zu spielen, wie wir unseren European Way of Life absichern können", sagt EU-Kommissar Johannes Hahn über die nächsten Jahre.
EU//Christophe Licoppe

STANDARD: Was ist nach diesen EU-Wahlen das Besondere an der Lage, was folgt für die nächsten Jahre?

Hahn: Der Unterschied ist vor allem, dass wir 2010 und danach noch sehr auf uns selbst fokussiert waren. Im Zentrum standen damals die Aufarbeitung der Finanzkrise, die Auswirkungen auf die Währungsunion, Griechenland, Brexit. Heute ist die Ausgangslage eine ganz andere. Es geht darum, was wir tun müssen, um in der Welt noch eine Rolle zu spielen, wie wir unseren European Way of Life absichern können. Das muss sich wiederfinden in den Prioritäten der nächsten Kommission.

STANDARD: Ist der Blick auf globale Herausforderungen wichtiger als innereuropäische Schwierigkeiten?

Hahn: Wie wir als Europäer auf der globalen Ebene agieren, davon wird abhängen, wie unser innereuropäischer Zustand in Zukunft sein wird.

STANDARD: Wird es dazu inhaltlich beim EU-Gipfel eine Einigung geben, auch beim Personalpaket im Rahmen einer zweiten Amtszeit von Präsidentin Ursula von der Leyen?

Hahn: Auf jeden Fall. Ich gehe davon aus, dass beides zustande kommen wird.

STANDARD: Wie ist der weitere Fahrplan?

Hahn: Ich gehe davon aus, dass die Präsidentin in der dritten Juliwoche im Europäischen Parlament gewählt wird. Dann wird sie bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten Nominierungen für die künftigen Kommissarinnen und Kommissare einsammeln. Im Oktober werden die Anhörungen der Kandidaten stattfinden. Daher gehe ich davon aus, dass die neue Kommission spätestens im Dezember ihre Arbeit aufnehmen wird.

STANDARD: Bleiben wir bei den Inhalten, beim Arbeitsprogramm der künftigen Kommission. Was sind die drei größten Herausforderungen bis 2029?

Hahn: Die Generallinie lässt sich mit dem Begriff "Strategische Souveränität" in der Welt ausdrücken, die wir sicherstellen müssen. Das bedeutet, mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Sicherheit und natürlich die Fortsetzung der Priorität grüner Wandel und Digitalisierung der Wirtschafts- und Arbeitswelt.

Die Umstellung auf Klimaschutz und Digitalisierung stehe nicht in Widerspruch zu Wettbewerb und Wirtschaft, sondern sei Europas Chance, erklärt Hahn.
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STANDARD: Was ist mit Migration, Demokratie, Erweiterung um neue EU-Mitglieder?

Hahn: Ich sehe Migration, die Zuwanderung, als Aufgabe im Rahmen der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Dabei habe ich große Erwartung an den EU-Migrationspakt, den wir nach zehn Jahren Debatte beschlossen haben. Wir brauchen eine organisierte Migration, die es uns erlaubt, auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts zu reagieren.

STANDARD: Als Ausgleich für den Bevölkerungsschwund in Europa mehr legale Migration?

Hahn: Ja, wir müssen das ausgleichen mit Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften. Das ist auch wichtig für die innere Stabilität Europas, was wiederum zu einer Entspannung bei manchen nationalen Regierungen führen würde. Das ist die Voraussetzung für alles andere, damit es uns weiter gutgeht.

STANDARD: Was ist die Schwierigkeit dabei?

Hahn: Wir haben geglaubt, dass die regelbasierte Weltordnung für die Ewigkeit ist. Aber das ist so nicht gegeben. Etwa zwei Drittel der Staaten dieser Welt werden autoritär geführt. China zum Beispiel verfolgt ganz klar ein anderes Gesellschaftsmodell. Wir müssen schauen, wo wir in dieser neuen Multipolarität, auch mit Indien, Südafrika, Lateinamerika, unseren Platz finden.

STANDARD: Was spricht für Europa?

Hahn: Der große Vorteil der Europäer ist der Binnenmarkt, die wirtschaftliche Stärke. In diesem Kontext haben wir eine Reihe von Partnern in der Welt, die Asean-Staaten, Indien, afrikanische Staaten. Diese haben Interesse an einem Zusammenwirken, an einer regelbasierten Welt. Wir müssen offensiv Handelsvereinbarungen treffen. So können wir unsere ökonomischen Aktivitäten absichern, durch Zugang zu anderen Märkten, auch damit wir Zugang zu Rohstoffen haben.

STANDARD: Das andere große Potenzial liegt bei der Vollendung des Binnenmarkts.

Hahn: Ja, der Bericht des früheren italienischen Premierministers Enrico Letta ist in dieser Hinsicht richtungsweisend. Er nennt ein Potenzial für mehr Effizienz im Binnenmarkt im Volumen von mehr als 400 Milliarden Euro, pro Jahr. Das Europäische Parlament kommt in einer Studie sogar auf 650 Milliarden Euro, das Vierfache des jährlichen EU-Budgets. Das sind gigantische Summen.

STANDARD: Wird der Green Deal, die Klimapolitik, einen geringeren Stellenwert haben?

Die österreichische Regierung sollte sich bald einig werden, wen sie als seinen Nachfolger als EU-Kommissar nach Brüssel schickt. Sonst werde man keinen einflussreichen Posten bekommen, glaubt Johannes Hahn.
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Hahn: Im Gegenteil, da steckt viel Potenzial drinnen. Als wir den Green Deal vor fünf Jahren zu einer Priorität gemacht haben, sagten viele noch, das sei eine Kopfgeburt. Als ich als Regionalkommissar 2010 angetreten bin, habe ich ein Budget für erneuerbare Energie von 13 Milliarden Euro vorgefunden. Das ist aus heutiger Sicht lächerlich. Seither hat sich viel getan. Der Krieg in der Ukraine hat die Diversifizierung und Umstellung auf alternative Energiequellen noch einmal gepusht. Wir müssen mehr herausarbeiten und kommunizieren, wie sehr der grüne Übergang eine extrem starke wirtschaftliche Perspektive hat. Das war bisher eher unterbelichtet. Wir reduzieren Abhängigkeiten und forcieren gleichzeitig die Entwicklung grüner Technologien, die sich weltweit vermarkten lassen.

STANDARD: Was steht im Bereich Sicherheit an?

Hahn: Mein Nachfolger wird die Herausforderung haben, über ein neues, mehrjähriges EU-Budget zu verhandeln. Dort wird man verstärkt reflektieren müssen, dass zwischen dem, was politische Priorität im Sicherheitsbereich ist, und der budgetären Absicherung, eine Lücke besteht. Die Problematik ist aber überschaubar, weil es im Binnenmarkt viel Einsparungspotenzial gibt, man regulatorisch viel machen kann. Die Nationalstaaten haben sich mit nationalen Argumenten abgeschottet. Ein neuer EU-Verteidigungskommissar kann sich um die Koordination der industriellen militärischen Entwicklung kümmern, um Einkauf, durchaus auch um Vermarktung.

STANDARD: Und im Bereich innere Sicherheit, beim EU-Migrationspaket?

Hahn: Es wird darum gehen, diese Bilder aus dem Jahr 2015 zu korrigieren, als viele das Gefühl hatten, die staatlichen Autoritäten hätten die Kontrolle über ihre Grenzen verloren. Meine Kollegin, EU-Innenkommissarin Johansson, hat mir berichtet, dass beim letzten EU-Innenministerrat debattiert wurde, wie man den Pakt implementiert. Das ist ein gutes Zeichen. Jahrelang wurde darüber gestritten, wie die Regelungen überhaupt ausschauen sollen. Jetzt haben wir die Regeln und können über die Umsetzung reden. Das ist das Gute an Europa: Wenn einmal eine Entscheidung getroffen wurde, geht es schrittweise weiter.

STANDARD: Was erwarten Sie bis 2029 bei der EU-Erweiterung, wird es neue EU-Mitglieder geben?

Hahn: Wir müssen auch die Erweiterung als geopolitisches Instrument und als Beitrag zu unserer Rolle als geopolitischer Akteur sehen. Es definiert sich über Menschen, die Bevölkerung, wirtschaftliche Potenz. Mit der Erweiterung um den Westbalkan, Ukraine und Moldawien würde man bevölkerungsmäßig den Brexit kompensiert haben. Und wir exportieren damit Stabilität und vermeiden es, Instabilität zu importieren.

STANDARD: Kommen wir zum Personalpaket, den EU-Spitzen, die das alles umsetzen sollen. Wer kommt neben Ursula von der Leyen?

Hahn: Das EU-Wahlergebnis war in seiner Eindeutigkeit überraschend. Die Europäische Volkspartei bleibt stärkste Partei, die Sozialdemokraten haben mehr oder weniger gehalten, Grüne und Liberale haben ziemlich verloren. Und die Zuwächse der Rechten und Rechtspopulisten waren nicht in dem Ausmaß wie vorhergesagt. Damit ist die Ausgangslage bei der Entscheidungsfindung klar.

Interview in Hahns Büro in der EU-Kommission in Brüssel: An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängt ein Bild von 1989: der damalige Außenminister Alois Mock beim Durchschneiden des Eisernen Vorhangs mit seinem Kollegen Gyula Horn.
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STANDARD: Das heißt, von der Leyen bleibt weiter Kommissionschefin, der portugiesische Ex-Premier António Costa wird Ständiger Präsident des Europäischen Rates? Das ist die Basis?

Hahn: Plus die Liberalen. Alle drei Fraktionen haben etwas mehr als 400 Stimmen im Parlament.

STANDARD: Von insgesamt 720. Das ist etwas wenig für eine sichere Mehrheit.

Hahn: Man sagt, dass man für jede Abstimmung eine Reserve braucht, ungefähr 420 bis 430 Abgeordnete. Man wird also schauen müssen, mit wem man noch reden kann. Ich gehe aber davon aus, dass die Abgeordneten im Parlament rational agieren. Von der Leyen hat Führungsstärke in Zeiten der multiplen Krise bewiesen, die allgemein anerkannt ist. Wenn sie im Juli von der Leyen nicht wählen, bringen sie ja auch ihr eigenes Modell der Spitzenkandidaten bei EU-Wahlen um. Von der Leyen war Spitzenkandidatin der EVP.

STANDARD: Wie ist es bei Costa?

Hahn: Ich kenne ihn aus einer Zeit, als er noch Bürgermeister von Lissabon war, hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihm. Ich glaube, er ist eine gute Wahl. Wirtschaftlich hat er den Weg Portugals geprägt, die Portugiesen stehen heute wirtschaftlich sehr gut da.

STANDARD: Er ist aus einem kleinen Land im Süden, auch das ein Argument?

Hahn: Man sollte das nicht unterschätzen. Wenn diese Besetzung durchgeht, haben wir dann von der Leyen aus einem großen Land in der Mitte, Kaja Kallas aus Nordosteuropa, Costa aus Südwesteuropa. Jeder bringt seinen Background mit. Nicht zu vergessen, dass auch die EU-Parlamentspräsidentin aus Malta wieder nominiert wurde.

STANDARD: Ist Kallas, die Premierministerin von Estland, fix? Sie hat einen sehr scharfen Kurs gegen Russland gefahren.

Hahn: Sie hat sich sehr gut positioniert in der Frage Ukraine. Das hat ihr international großen Respekt verschafft. Natürlich wird sie aber als EU-Außenbeauftragte als Außenministerin für ganz Europa agieren müssen. Alle Kandidaten bringen jedenfalls die nötige Erfahrung mit. Sie werden mit positiver Erwartung begrüßt.

STANDARD: Zu Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin aus Österreich. Wie sieht es da aus?

Hahn: Ich kann nur vom Zeitlichen her sagen, die ganze Regierung ist gut beraten, schnell eine Entscheidung zu treffen. Am Ende werden sie sonst verantwortlich gemacht werden, wenn Österreich kein wichtiges Dossier bekommt.

Der Erfolg einer Regierung auf EU-Ebene hänge auch davon ab, ob sie in Brüssel und Straßburg einig auftrete. Das Vorgehen bei der EU-Renaturierungsverordnung sei bei den Partnern aufgefallen: "Negativ", berichtet der Kommissar.
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STANDARD: Was heißt schnell?

Hahn: Ich bin beim letzten Mal auch im Juli bestellt worden. Es ist das ausschließliche Recht eines Mitgliedsstaates, jemanden zu nominieren. In Österreich ist es auch so, dass die eigentliche Beschlussfassung im Parlament erfolgt.

STANDARD: Was empfehlen Sie der Regierung, wen sollte sie nominieren?

Hahn: Die Kandidaten, die genannt werden, sind alle sehr kompetent, haben alle Chancen, ein interessantes Dossier zu bekommen. Es muss jetzt aber erst einmal feststehen, welche Ressortaufteilung sich die Präsidentin überlegt.

STANDARD: Sollte ein Kandidat Minister gewesen sein?

Hahn: Aus Erfahrung kann ich sagen, es ist sicherlich von Vorteil. Er oder sie sollte wissen, wie Regieren funktioniert, wie man eine Verwaltung managt.

STANDARD: Finanzminister Magnus Brunner, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, Außenminister Alexander Schallenberg, Umweltministerin Leonore Gewessler, Justizministerin Alma Zadić, wer sollte es werden?

Hahn: Das ist Sache der Bundesregierung.

STANDARD: Hat Umweltministerin Gewessler bei der Abstimmung zum EU-Renaturierungsgesetz richtig gehandelt?

Hahn: Ich werde oft gefragt, wie das Verhalten Österreichs in Brüssel aufgenommen wird. In den meisten Fällen wird es gar nicht groß registriert. Aber in diesem Fall kann ich sagen: Das ist registriert worden.

STANDARD: Und wie?

Hahn: Negativ. Man hat registriert, dass man sich innerhalb der Regierung nicht einigen konnte. Und das ist nicht gut. Eine Regierung sollte in Brüssel einig auftreten. Da sollte es keine Unklarheit geben, ob der Beschluss in Österreich rechtlich korrekt ist oder nicht.

STANDARD: Hat es so einen Fall schon einmal gegeben, dass ein Minister im EU-Rat gegen den eigenen Regierungschef auftritt?

Hahn: Nach meinem Wissen hat es das noch nicht gegeben. Ich würde doch gewisse Zweifel anmelden, dass das Modell "das Beste aus beiden Welten" zukunftstauglich ist.

STANDARD: Was heißt das jetzt aus Sicht der Kommission für die Gültigkeit der EU-Verordnung?

Hahn: Wir beschäftigen uns damit nicht. Momentan ist der Beschluss da, und der gilt. Die Verordnung ist beschlossen, damit ist das vorläufig erledigt. Ob es eine Nichtigkeitsklage geben wird, wird man sehen. Ein perfektes Bild hat Österreich dabei nicht vermittelt.

STANDARD: Was heißt das für die österreichische Europapolitik?

Hahn: Ich habe bei Frau Gewessler manchmal das Gefühl, für sie ist Recht, was ihr recht ist. Das ist auch eine Frage, wie man die Dinge grundsätzlich behandelt: Bin ich Ministerin für ganz Österreich oder nur für meine Wählerinnen und Wähler? Offenkundig gibt es beim Regelwerk einen Nachschärfungsbedarf, um eine solche Peinlichkeit in Zukunft zu vermeiden. Es ist in Brüssel mit Verwunderung registriert worden.

STANDARD: In Wien sind deftige Worte gefallen, was sagen Sie?

Hahn: Im Interesse der Sachlichkeit sollte es eine Abrüstung der Worte geben. Ich finde die Aussagen von Frau Gewessler oder von Vizekanzler Werner Kogler, dass der Verfassungsdienst parteiisch sei, höchst problematisch. Und auch wenn die von mir geschätzte Karoline Edtstadler jetzt sagt, es handle sich bei der EU-Verordnung um ein weiteres Diktat aus Brüssel, muss ich sagen, man sollte mit Worten aufpassen. Es gibt aus Brüssel kein Diktat. Es gibt eine demokratische Beschlussfassung durch die Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament. Das ist wie beim Fußball. Beim Match gibt es Entscheidungen des Schiedsrichters, die man kritisiert, die man aber auch akzeptiert. Man sollte sich die Folgewirkungen überlegen. (Thomas Mayer, 27.6.2024)