Winfried Kretschmann, Grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, liest seiner Partei die Leviten.
EPA/CLEMENS BILAN

Gespräche mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Grünen-Chef Werner Kogler und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler – Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat in Wien bis Freitagabend ein dichtes Programm. Es geht um Klimawandel und Künstliche Intelligenz, aber die Verluste bei der EU-Wahl sind auch Thema.

STANDARD: Die deutschen Grünen sackten bei der EU-Wahl noch stärker ab als die österreichischen Grünen – nämlich von 20,5 auf 11,0 Prozent. Haben Sie den Schock schon verdaut?

Kretschmann: Sicher nicht, das war ja eine krachende Niederlage.

STANDARD: Haben die Grünen in Deutschland mit dem Thema "Demokratie und Vielfalt" aufs falsche Pferd gesetzt?

Kretschmann: Mich besorgt etwas anderes sehr viel mehr: Wir leiden unter einem dramatischen Ansehensverlust. Es ist ja nicht einmal so, dass die Leute einfach mal sagen: Diesmal wähle ich eine andere Partei als die Grünen.

STANDARD: Sondern?

Kretschmann: Wahlforscher sagen uns: Die Zahl der Leute, die sich überhaupt vorstellen können, die Grünen zu wählen, ist drastisch geschrumpft. Und es werden jene dramatisch mehr, die meinen: Die Grünen werde ich niemals wählen.

STANDARD: Tröstet es Sie, dass die SPD, Ihre Bündnispartnerin in der Ampel, auch verloren hat?

Kretschmann: Nein, denn wir haben es ja mit drei sich überlagernden Problemen zu tun. Erstens: einer tiefen Krise des Vertrauens in demokratische Parteien insgesamt. Vertrauen ist eine kostbare Währung. Sie ist schnell verloren, aber schwer wieder zurückgewonnen. Zweitens: Die Parteien der Mitte fangen die Verluste gegenseitig nicht mehr auf. Es ging an die Extremen, an die AfD oder das Bündnis von Sahra Wagenknecht. Das ist alarmierend. Und drittens: Die Fragmentierung, also der Anteil der Kleinstparteien, nimmt enorm zu.

STANDARD: Warum ist es so weit gekommen? Die Grünen lagen in Umfragen einmal bei fast 30 Prozent.

Kretschmann: Es ist ein Trend, den wir in der ganzen Welt haben. Die Ursachen müssen also tiefer liegen. Rechtspopulisten reagieren etwa auf die großen Themen der Zeit wie den Klimawandel, die Digitalisierung oder die demografische Krise mit Verdrängung, weil die Zumutungen zu groß sind. Die gewaltigen geopolitischen Verschiebungen, der Angriffskrieg Russlands und der Vormarsch Chinas auf der Weltbühne stressen die Gesellschaft zusätzlich. In so einer Krisenmüdigkeit sind die Flucht in einfache Weltbilder und der Rückzug ins Nationale verlockend.

STANDARD: Sind die Grünen eine Schönwetterpartei? Wenn alles läuft, mag man sie und findet ihre Ziele gut. Aber die Bewältigung von Krisen traut man ihnen nicht zu.

Kretschmann: Die Wahlanalysen sprechen erst einmal dafür. Aber es kann so nicht zutreffen, weil uns beim Klimaschutz die besten Kompetenzwerte zugeschrieben werden. Aber es stimmt, dass das, was uns in Baden-Württemberg gelungen ist, erst einmal gestoppt wurde: nämlich in den Bereich einer Volkspartei vorzudringen. Um dort zu bestehen, muss man breite Bündnisse schließen und auch in anderen großen Themen überzeugende Konzepte haben. Und die haben die Grünen bei der Migration offensichtlich nicht.

STANDARD: Was läuft falsch?

Kretschmann: Wir hätten eigentlich einen guten Ansatz, und der lautet: irreguläre Migration so weit wie irgendwie möglich begrenzen – auch mit Härte – und die reguläre Migration erleichtern. Man darf die beiden Dinge nicht vermischen, sonst wird das Asylrecht ausgehöhlt.

STANDARD: Wofür plädieren Sie?

Kretschmann: Es kann nicht funktionieren, dass massenweise Menschen, die Elend und Armut entkommen wollen, aber nicht politisch verfolgt sind, über das Asylsystem zu uns kommen. Das Asylrecht ist dafür nicht gemacht, da müssen wir Härte und Klarheit an den Tag legen. Aber die Klarheit lassen die Grünen definitiv vermissen. Um mehrheitsfähig in der Mitte zu bleiben, müssen wir uns in dieser zentralen Frage neu sortieren.

STANDARD: Das werden viele Ihrer Parteifreundinnen und -freunde nicht gern hören.

Kretschmann: Regieren beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Und dann gilt immer die Grundregel: Die erste Koalition in der Demokratie ist die Koalition mit dem Bürger. Umgekehrt gilt in aller Klarheit auch: Wir müssen die legale Migration beschleunigen, das wurde viel zu lange verschlafen. Ich halte es für eine der größten Lebenslügen in diesem Land, dass wir so lange gebraucht haben, um anzuerkennen, dass Deutschland seit den 1960er-Jahren ein Einwanderungsland ist. Das rächt sich. Dazu zählt etwa, dass ausländische Berufsabschlüsse schneller und einfacher anerkannt werden.

STANDARD: Wie gehen Sie mit den Ängsten jener um, die zu viel Zuwanderung besorgt?

Kretschmann: Angst ist menschlich, aber kein guter Ratgeber. Wir kennen aus der Evolution die "Fight or flight"-Reaktion – kämpfen oder fliehen. Aber diese Reaktion ist zutiefst unterkomplex in einer enorm komplexen Welt. Angst vor dem Fremden ist menschlich, die Neugier aber genauso. Aber wenn aus Angst Fremdenhass wird, dann untergräbt das die materiellen Grundlagen unseres Wohlstandes. Denn wir haben zu wenige Arbeitskräfte. Auch wenn die extremen Kräfte eine vermeintlich heile Welt wiederherstellen wollen, die es so nie gab – die Antwort darauf kann nur ein starkes Europa sein als der Garant für Frieden, Wohlstand und Freiheit. Das müssen wir stärker argumentieren. Es reicht nicht, Rechtsextreme zu dämonisieren. Am Ende zählen in einer Demokratie die Argumente. Aber wir brauchen eben auch die bessere Geschichte. Weil Menschen, das kann man ja bei jedem Verliebten erleben, nun einmal emotionale Wesen sind.

STANDARD: Werden die Grünen auch mittlerweile verschmäht, weil sie – nach Meinung vieler – zu viele Vorschriften machen?

Kretschmann: Vordergründig ja. Aber schauen wir mehr in die Tiefenarchitektur. Die Geschichte des Fortschritts, dass es die Kindergeneration besser haben wird als die Eltern, gerät massiv ins Wanken. Ein wesentlicher Faktor: Die Balance zwischen Regulierung und Dynamisierung stimmt nicht mehr. Es braucht beides, aber die Regeln müssen so gestaltet sein, dass sie Freiräume lassen für neue Ideen – etwa wenn es um Start-ups geht. Da sind wir zu starr. Mittlerweile stoßen auch die größten Regulierungsfreunde, zu denen einige in meiner Partei ja gehören, an Grenzen und merken: In dem ganzen Regulierungsdschungel bekomme ich nur sehr schwer einen Windpark errichtet. Statt im alten Links-rechts-Denken zu verharren, sollten wir eher fragen: Was ermöglicht Fortschritt, was bremst ihn aus?

STANDARD: Was muss Ihre Partei lernen?

Kretschmann: Den Grundsatz: "Klar in den Zielen, offen in den Wegen." Wir dürfen nicht auch noch die Wege vorschreiben. Beim Naturschutz in der Landwirtschaft etwa geht es nicht darum, immer mehr zu regulieren. Die Landwirte sollten vielmehr sehen, was sie bekommen, wenn sie auf den Einsatz von Pestiziden verzichten. Man muss Anreize schaffen, dass sich mit so einem Modell auch Geld verdienen lässt und sich eine selbsttragende Dynamik entwickelt, die neuen Ideen und Kreativität Raum lässt. Daraus entsteht dann Zuversicht.

STANDARD: Also weg von den Zumutungen?

Kretschmann: Grundsätzlich finde ich schon, dass man den Menschen beim Kampf gegen den Klimawandel auch etwas zumuten kann. Es gehört aber gut erklärt. Und wir müssen die Instrumente klug wägen und mehr auf Marktinstrumente wie den CO2-Preis oder den Zertifikatehandel setzen. Wenn dadurch klimaschädliches Handeln ein Preisschild erhält, rechnen sich grüne Produktlinien von ganz allein.

STANDARD: Leonore Gewessler hat für das EU-Renaturierungsgesetz gestimmt. Seither hängt der Haussegen in der österreichischen Koalition schief. Fanden Sie ihr Handeln gut?

Kretschmann: In der Sache war das sicher richtig. Denn es waren ja bereits Kompromisse erfolgt, die die Konservativen eingefordert hatten. Es ist auch wichtig, dass der Green Deal fortgeschrieben wird. Denn das Kernproblem der EU-Agrarpolitik, das die Bauernproteste in Europa offengelegt haben, war eine jahrzehntelange Fehlallokation nach dem Motto: wachse oder weiche. Ob es richtig war, sich mit dem Koalitionspartner so anzulegen – das möchte ich von außen nicht beurteilen.

STANDARD: Knallt es zwischen Grünen und CDU in Baden-Württemberg nie?

Kretschmann: Ich weiß eines: So etwas wie die Ampel darf ich in Baden-Württemberg nicht zulassen. Daher wende ich jede Woche viel Kraft auf, um dieses grün-schwarze Bündnis zusammenzuhalten. Man muss immer schauen, was man dem anderen zumuten und eben auch mal gönnen kann. Das klappt ganz gut.

STANDARD: Warum klappt das bei der Ampel offensichtlich nicht?

Kretschmann: Man muss hinter den Kulissen streiten, nicht davor. Und wenn ein Kompromiss gefunden wurde, sollten alle dazu stehen. Es darf nachher keiner ausscheren und sagen: "Aber wir hätten noch viel mehr gewollt."

STANDARD: Hält die Ampel bis 2025?

Kretschmann: Ich denke schon. Aber drei Partner sind schwierig. Vermutlich müssen wir uns daran gewöhnen, dass in Zukunft auch sehr dissidente Parteien miteinander koalieren – vielleicht mit anderen Modellen als bis ins Detail ausformulierten Koalitionsverträgen. Weil am Ende muss ja irgendwer regieren. Und wenn es schwerfällt, hilft die Bibel, wo es heißt: "Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen." (Birgit Baumann, 28.6.2024)