Rechtsbrecherin. Eine Gefahr. Außerhalb des Verfassungsbogens. Nach ihrem Alleingang beim Renaturierungsgesetz kann sich Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) kaum der Anwürfe ihres Regierungspartners erwehren. Der Koalition mit der ÖVP steht trotzdem – und könne von ihr aus gern in die Verlängerung gehen, erklärt Gewessler.

STANDARD: Die ÖVP bezeichnet Ihr Vorgehen als "fürchterlich" und nennt Sie eine Rechtsbrecherin. Wie erklären Sie sich, dass Sie trotz dieser massiven Vorwürfe noch Ministerin sind?

Gewessler: Ich habe mir die Entscheidung beim Renaturierungsgesetz nicht leicht gemacht. Und ich habe – das ist der entscheidende Punkt – die juristische Expertise eingeholt, um einen rechtskonformen Weg zu finden. Deswegen wäre eine Abrüstung der Worte angebracht. Am Ende habe ich nichts anders gemacht als ÖVP-Minister vor mir in EU-Räten, etwa Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig. Wenn Totschnigs Vorgehen rechtskonform war, ist es auch meines. Ich wollte einfach im entscheidenden Moment nicht vor meiner Verantwortung als Ministerin davonlaufen. Es geht bei dem Gesetz um viel – um unsere Lebensgrundlagen.

STANDARD: Verfassungsministerin Karoline Edtstadler sagt, die ÖVP habe kein Interesse daran, künftig noch einmal mit den Grünen zu regieren. Würden Sie als grüne Vizechefin denn wieder mit der ÖVP koalieren?

Gewessler
Leonore Gewessler (46) arbeitete bei der NGO Global 2000, ehe sie Anfang 2020 Klimaschutzministerin wurde.
Heribert Corn

Gewessler: Warum nicht! Wir haben als Grüne eine große Aufgabe, den Schutz unserer Natur und des Klimas. Wir orientieren uns daran, mit welchem Partner wie viel durchsetzbar ist. Mit diesem Maßstab gehen wir nach der Wahl in Gespräche auch mit der ÖVP.

STANDARD: Sie gelten als die logische nächste Parteichefin der Grünen, wenn Werner Kogler dereinst die Partei übergibt. Sehen Sie sich in Zukunft eher als kantige Oppositionelle oder als Ministerin der kleinsten Partei in einer Dreierkoalition?

Gewessler: Zunächst werde ich mit dem großartigen Team um Werner Kogler einen Wahlkampf machen, wo ich um jede einzelne grüne Stimme werben werde. Spekulationen über die Zeit danach bringen uns nicht weiter.

STANDARD: Dann reden wir über die Gegenwart: Sie haben im Konflikt um das Renaturierungsgesetz den Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt kritisiert, der die Sicht der ÖVP stützt, dass Sie widerrechtlich gehandelt hätten. Ihre Kritik erinnert fast an Sebastian Kurz, der die Korruptionsstaatsanwaltschaft bezichtigt hat, sie sei der Gehilfe des politischen Gegners. Was unterscheidet Ihre Kritik davon?

Gewessler: Unbestritten arbeiten im Verfassungsdienst großartige Expertinnen und Experten. Wir sehen aber auch, dass dieser Dienst eine weisungsunterworfene Stelle im Bundeskanzleramt ist. Und ja – das führt in der Realität derzeit oft dazu, dass bei einer Rechtsauslegung die ÖVP-Position rauskommt. Ich hielte es für gut, wenn wir einen unabhängigen Rechtsdienst in dieser Republik haben und uns Schritte in diese Richtung überlegen.

"Wir orientieren uns daran, mit welchem Partner wie viel durchsetzbar ist. Mit diesem Maßstab gehen wir nach der Wahl in Gespräche auch mit der ÖVP."

STANDARD: Dass die Politik dem Verfassungsdienst bei einer juristischen Thematik die Fragestellung vorgibt, ist klar – aber glauben Sie tatsächlich, dass auch die Antwort diktiert wird?

Gewessler: Ich glaube, es würde uns guttun, hätten wir einen wirklich unabhängigen Rechtsdienst, der auch strukturell abgesichert ist. Diese Diskussion sollten wir ohne Scheuklappen führen.

STANDARD: Sie insinuieren, dass der Auftraggeber eines Gutachtens dessen Ergebnis beeinflusst – gilt das dann umgekehrt auch für das Klimaschutzministerium, das Juristen mit der Bewertung der Frage beauftragt hat, ob Ihr Alleingang zulässig ist?

Gewessler: Ich habe lediglich auf Grundlage der geltenden Rechtslage getan, was viele ÖVP-Minister vor mir gemacht haben. Als Totschnig in Brüssel die Senkung der Agrar- und Umweltstandards zustimmte, war das rechtskonform – zumindest hätte ich niemanden von Verfassungsbruch reden hören. Dasselbe galt, als Innenminister Gerhard Karner gegen unseren expliziten Widerstand Bulgarien und Rumänien den Beitritt zum Schengen-Raum verwehrte. Das Recht gilt für alle gleich.

STANDARD: Juristisch stützen Sie sich auf vier Privatgutachten. Nicht darunter ist eines des Juristen Walter Obwexer – kolportiert wird, dass Obwexer von Ihrem Ministerium angefragt wurde. Weil er aber in einer Ersteinschätzung das Vorgehen als widerrechtlich erachtete, sei er nicht mit einem Gutachten beauftragt worden.

Gewessler: Das muss ich klar zurückweisen. Ich habe zum Naturschutzgesetz mit vielen Juristen gesprochen, aber Professor Obwexer war diesmal nicht darunter.

Gewessler
Wien und Kärnten "hätten es mir leichter machen können", sagt die Ministerin – nämlich beim Renaturierungsgesetz noch stärker mitziehen.
Heribert Corn

STANDARD: Rund um die berühmt-berüchtigte einheitliche Stellungnahme der Bundesländer ist noch vieles unklar. Mitte Mai sind die roten Länder Wien und Kärnten ausgeschert. Es war aber nicht klar, ob damit die Stellungnahme wirklich hinfällig ist. Deshalb erklärten Sie Anfang Juni, Sie würden das klärende Gespräch mit den Landeschefs Michael Ludwig und Peter Kaiser suchen. Ist das geschehen?

Gewessler: Ja, wir haben diese Frage in unterschiedlichen Runden intensiv diskutiert – etwa bei einer Konferenz der Landesnaturschutzreferenten mit allen Bundesländern in Kärnten, kurz vor der Beschlussfassung. Ich habe noch einmal sehr für das Renaturierungsgesetz geworben. Am Ende der Sitzung war klar, dass es keine einheitliche Position der Bundesländer mehr gibt, weil Wien und Kärnten ihre Sichtweise geändert haben.

STANDARD: Trotzdem ist ebendiese Frage, ob die Stellungnahme nun weiter gilt oder nicht, bis heute strittig. Hätten Wien und Kärnten ihre Position noch klarer machen müssen?

Gewessler: Wien und Kärnten hätten es mir auch leichter machen können: nämlich explizit auszusprechen, was sie implizit gemacht haben – indem sie etwa Regierungsbeschlüsse fassen. Das ist nicht geschehen. Aber ich betone, dass das Ergebnis zählt. Es ist etwas Wichtiges gelungen, nämlich dass wir dieses wunderschöne Land unseren Kindern und Enkelkindern in all seiner natürlichen Vielfalt hinterlassen.

STANDARD: Auch wenn Ihnen die roten Bundesländer Wien und Kärnten in Sachen Renaturierung teilweise entgegengekommen sind, gilt die SPÖ in den Augen vieler Grüner als eine Betonierer- und Autofahrerpartei – vor allem in Wien. Das zeigt sich etwa beim Lobautunnel, für dessen Absage Sie in der eigenen Basis viel Anerkennung bekommen haben. Wäre das für Sie eine Koalitionsbedingung nach der nächsten Wahl? Dass mit den Grünen der Lobautunnel nicht kommt?

Gewessler: Klar ist, dass wir mit Lösungen aus den 70er-Jahren nicht weiterkommen, sondern solche aus dem 21. Jahrhundert brauchen. Wir lösen keine Verkehrsprobleme, indem wir eine neue Straße bauen. Mehr Straßen bedeuten immer mehr Autoverkehr. Es gibt gescheitere Lösungen.

"Wien und Kärnten hätten es mir auch leichter machen können – indem sie etwa Regierungsbeschlüsse fassen. Das ist nicht geschehen."

STANDARD: Versprechen Sie Ihren Wählern, dass es mit den Grünen als Teil einer Bundesregierung keinen Lobautunnel gibt?

Gewessler: Die Menschen in Österreich haben sich die letzten viereinhalb Jahre darauf verlassen können, dass die Grünen aufseiten des Natur- und Klimaschutzes stehen. Ich habe nicht vor, das zu ändern.

STANDARD: In wenigen Tagen übermittelt Österreich den Nationalen Energie- und Klimaplan an die EU, der Maßnahmen für die CO2-Reduktion vorsieht. Eine erste Fassung dieses Plans scheiterte, weil Ministerin Edtstadler Ihren Entwurf zurückzog. Nun läuft gar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich. Wie werden Sie vorgehen? Droht die nächste Schlacht mit der ÖVP?

Gewessler: Wir arbeiten noch daran. Ich bin zuversichtlich, dass wir da ein ordentliches Ergebnis hinkriegen und am Ende einen fertigen Plan an die EU-Kommission schicken können.

STANDARD: Abgestimmt mit den zuständigen türkisen Ministerien?

Gewessler: Ja, abgestimmt.

"Gemessen an der härtesten aller Maßzahlen, der CO2-Reduktion, waren wir erfolgreich."

STANDARD: Zurück zum Renaturierungsgesetz: Wir haben erlebt, dass die ÖVP zwar laut protestierte, aber die Koalition nicht aufgekündigt hat. Mit diesem Wissen – hätten Sie in den vergangenen vier Jahren etwas anders gemacht? Vielleicht entschiedener gehandelt?

Gewessler: Nein. Ich bin in die Politik eingestiegen, weil ich etwas für den Klimaschutz tun wollte – ein Feld, in dem zuvor nichts geschehen war. Heute sehen wir, dass der CO2-Ausstoß in Österreich erstmals sinkt, um knappe zehn Prozent in den letzten zwei Jahren. Für mich zählt das Resultat – gemessen an der härtesten aller Maßzahlen, der CO2-Reduktion, waren wir erfolgreich.

Gewessler
Wird der Nationale Energie- und Klimaplan zur nächsten Schlacht zwischen ÖVP und Grünen? Voraussichtlich nicht, beteuert Gewessler.
Heribert Corn

STANDARD: Was allerdings auch an der internationalen Energiekrise und dem weltweiten Aufschwung erneuerbarer Energien liegt. Aber zurück nach Österreich: Beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz etwa finden die meisten Experten, dass Förderungen für Erneuerbare nicht reichen; es brauche auch ein fixes Verbot von Gasthermen. Dennoch haben sich die Grünen mit Förderungen zufriedengegeben.

Gewessler: In Zeiten großer Unsicherheit mussten wir ein anderes Gesetz machen, um zum selben Ziel zu kommen. Im Fall dieses Gesetzes schwappten eine wilde Debatte und viele Ängste rund um Verbote aus Deutschland nach Österreich – das gesamte Umfeld änderte sich. Deswegen haben wir die Förderungen aufgestockt, anstatt Verbote im Bestand auszusprechen. Heute zeigt sich, dass wir extrem hohe Zahlen bei Heizungstäuschen und Förderanträgen haben – was mich sehr zuversichtlich stimmt.

STANDARD: Zum Schluss: Wo verbringt eine grüne Klimaschutzministerin zwischen Renaturierungskrise und Regierungskrise ihren Urlaub?

Gewessler: Ich verfolge mittlerweile seit Jahren ein Projekt, nämlich einen alpinen Weitwanderweg fertigzugehen. In meinem Job geht so etwas nur in Etappen. Heuer ist die nächste dran. (Joseph Gepp, Katharina Mittelstaedt, 26.6.2024)