Eine Kant-Statue.
Im Namen Immanuel Kants sprechen, um die Grenzen des heute öffentlich Sagbaren vernunftgemäß abzustecken: Jan Philipp Reemtsma sprach in einer Hamburger Kirche aus Anlass von 100 Jahren deutschem PEN.
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Es hat eines hochgelehrten Philanthropen bedurft, um Deutschlands Autorinnen und Autoren eindringlich ins Gewissen zu reden. Jan Philipp Reemtsmas Festvortrag galt dem 100-jährigen Bestehen des deutschen PEN. Schauplatz der geschliffenen Ermahnung war die Hamburger Kirche St. Petri. Im heurigen Kant-Jahr kein übel gewählter Ort, um an die Maßgaben der Aufklärung zu erinnern – und an die Sprengung jener Fesseln, die uns Heutige am Vernunftgebrauch hindern. Der Text des Vortrags erschien, etwas gekürzt, in der FAZ.

Reemtsma (71), Sozialforscher, Tabakerbe, Entführungsopfer, machte sich mit der Gründung des Hamburger Instituts für Sozialforschung einst in der Grundlagenforschung verdient. Überlegungen zur deutschen Gewalt- und NS-Geschichte hatte er zuletzt zurückgestellt: Seine umfassende Christoph-Martin-Wieland-Biografie, publiziert 2023 – DER STANDARD berichtete –, bildet einen Gipfelpunkt universell gebildeter Erzählkunst.

Jan Philipp Reemtsma, Germanist und Sozialforscher, über die Bedeutung öffentlichen Redens.
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Reemtsma berichtete darin wohlinformiert über die ersten, zarten Regungen der Aufklärung in Deutschland. Ihre dichtenden Vertreter, wie eben Wieland, trugen Seidenstrümpfe, morgens den Rock des Hausvaters. In ihren Oberstübchen aber unterschieden sie zwischen öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch. Schon Immanuel Kant wusste: Was jemand innerhalb seiner eigenen vier Wände privat denkt, enthebt ihn nicht der öffentlichen Gehorsamspflicht, etwa gegenüber fürstlichen Dienstgebern und kirchlichen Dogmen.

Doch wer ist berechtigt, die Menschheit aufzuklären? Sind es selbsternannte Meinungsführer, die meinen, über das Wohl und Wehe aller anderen befinden zu müssen? Als ob die "Beleuchtung der Köpfe" Innungssache wäre, ein Geschäft für eigens abgerichtete Köpfe.

Registerwechsel

Ansatzlos wechselt Reemtsma die Register – und damit in die Gegenwart hinüber. In der werde, zwischen Hamas-Terror und "Holocaust-Leugnung", mit dem Begriff der Relativierung Schindluder getrieben. Man sollte öfter, so Reemtsma, an öffentlichen Stellungnahmen Anstoß nehmen. Vielen von ihnen stimmt man lediglich routiniert zu. Sie bedienen sich der "richtigen" Wörter bloß signalhaft. Sie rufen uns, den Hörern und Leserinnen, zu: Wir sind uns einig, weil wir dieselben Phrasen wiederkäuen.

Den PEN-Schriftstellerinnen liest Reemtsma indirekt, aber unsanft die Leviten. Wahrheit, die nie infrage gestellt wird, "ist nur ein Aberglaube mehr, der zufällig an den Worten hängt, welche eine Wahrheit aussprechen" (John Stuart Mill). Und Reemtsma nennt Beispiele, darunter solche, in denen über die Hamas-Verbrechen bloß deshalb gesprochen wird, um sie mit den Massenmordtaten der Nazis – in den von diesen besetzten Gebieten – zu vergleichen.

Manchmal, so der Festredner, gleicht der Hinweis auf die Verharmlosung des Holocaust einem Bekenntnis: dem zur "Unwilligkeit, informiert zu denken". Mit öffentlichen Redeverboten sollte man daher sparsam umgehen. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist das zivilisatorische Anliegen schlechthin. Doch wer allzu salbungsvoll von der "besonderen deutschen Verantwortung" spreche, laufe Gefahr, sich im eigenen Phrasensumpf womöglich allzu wohlbehaglich auszustrecken.

Verstandesklarheit

Und so endet einer der bisher wichtigsten, verstandesklaren Beiträge zum laufenden Immanuel-Kant-Jahr mit einer (nicht eigens deklarierten) Hommage an den zweiten Jahresregenten, der ein natürlicher Widersacher jeder Anwandlung von Heuchelei war: Karl Kraus.

Jan Philipp Reemtsma bringt das Wesen alles bloß noch routiniert Gemeinten auf den Punkt: "Phrasen sind Signale, dass man das, worüber man zu reden vorgibt, nicht ernst nimmt – und sich selbst obendrein nicht." Es gebe Formen öffentlichen Sprechens, an denen, obwohl nichts augenfällig Falsches gesagt wird, nichts mehr stimmt. Routine ruiniert die beste Sache, das hehrste Anliegen.

Auch das sollten sich, 300 Jahre nach Immanuel Kants Geburt, alle mäßig Erleuchteten gesagt sein lassen. Schon Reemtsmas besonderer Liebling, der Dichter Wieland, fragte: "Wo sind die Grenzen der Aufklärung? Antwort: wo, bey allem möglichen Lichte, nichts mehr zu sehen ist." (Ronald Pohl, 26.6.2024)