Jeff Bezos sitzt vor einem Schreibtisch neben gestapelten Paketen von Amazon.de
Amazons Chief Executive Officer Jeff Bezos, dessen Geschäftsidee ihm ein Vermögen von derzeit rund 200 Milliarden US-Dollar eingebracht hat, stellt die Pakete natürlich nicht selbst zu. Vielleicht muss sich deshalb ein Wiener Gericht mit Sendungsproblemen beschäftigen.
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Wien – "Ich bin immer überlastet gewesen, musste immer laufen, sonst wäre ich erst um 23 Uhr zu Hause gewesen", erklärt Angeklagter H. seinem Richter Wolfgang Etl. H. beschreibt damit seine Tätigkeit als Zusteller einer Subfirma des US-Konzerns Amazon, der im Vorjahr weltweit einen Gewinn vor Zinsen und Steuern von umgerechnet 34,3 Milliarden Euro gemacht hat. In Österreich zahlt der Onlinehändler recht wenig an Abgaben für die Allgemeinheit, auch die Arbeitsbedingungen werden von der Gewerkschaft kritisiert. Die Staatsanwaltschaft wirft dem unbescholtenen 36-Jährigen vor, sich illegal ein Zubrot verschafft zu haben: Indem er 113 Pakete öffnete und die Waren im Wert von über 11.000 Euro durch minderwertige Produkte ersetzte. Zusätzlich soll er im Dezember 2023 versucht haben, einen gelieferten Staubsauger im Wert von 550 Euro zu stehlen, wobei er ertappt wurde.

Zwischen 1700 und 1900 Euro habe er damals, im Zeitraum April 2023 bis Februar 2024, netto verdient, verrät der Angeklagte dem Richter. Der verheiratete Vater einer Sechsjährigen muss in Deutschland einen 18.000-Euro-Kredit bedienen, mit dem sich die Familie ein Ferienhaus in H.s Heimat Ungarn zugelegt hat. 500 Euro Rate im Monat sind dafür fällig, weitere 170 Euro gehen für das Leasingauto weg. "Es hat leider nicht gereicht, da ich in Scheidung lebe und wir getrennte Kassen haben", skizziert der Arbeiter seine finanzielle Lage.

Staubsauger kein Weihnachtsgeschenk

Er gesteht allerdings nur den versuchten Staubsaugerdiebstahl. "Es war kurz vor Weihnachten, ich wollte ein schönes Geschenk für meine Tochter kaufen können", gibt H. zu. "Warum einen Staubsauger? Der ist als Geschenk für eine Sechsjährige ja nicht so geeignet", wundert Richter Etl sich, wobei man mit diesem Präsent ganz generell eher keine Freudentränen bei Frauen auslösen dürfte. "Ich dachte, es ist eine bessere Schachtel, deren Inhalt ich verkaufen kann", lässt der Angeklagte übersetzen.

Den strafrechtlich und finanziell schwerwiegenderen Vorwurf bestreitet H. jedoch vehement. "Damit habe ich nichts zu tun. Ich habe zwar oft von Kollegen und Kunden gehört, dass so etwas passiert ist, aber ich habe das nicht gemacht. Ich habe selbst den Diebstahl so blöd gemacht, dass ich erwischt wurde", führt er als Argument an. Seine Beschreibung des Arbeitsalltags lässt tatsächlich Zweifel aufkommen, ob er für die Manipulation – Paket öffnen, Ware austauschen, Paket verschließen – überhaupt ausreichend Zeit gehabt hätte.

"In der Früh kommt man ins Lager und übernimmt die Pakete", beginnt H., den Ablauf zu schildern. "Die müssen Sie dann noch für die Route schlichten?", fragt Etl. "Nein, die App gibt einem die Adressen vor, an denen man ausliefern muss", erklärt der Angeklagte. Allerdings: "Zuerst kommen die Retouren. Wenn ich ein Paket in einem Dorf abholen muss, das 140 Kilometer entfernt liegt, brauche ich eineinhalb Stunden hin und eineinhalb zurück. Das ist die Übernahmezeit, meine Arbeitszeit beginnt dann erst um 11.30 oder 12 Uhr, wenn ich die erste Sendung zustelle."

Pakete auch "schlecht abgestellt"

Da sein Unternehmen keine Station habe, um Pakete abgeben zu können, wenn der Adressat nicht da ist, müsse er manchmal auch zwei oder drei Zustellversuche unternehmen. "15 bis 20 Pakete habe ich am Tag dann auch schlecht abgestellt, vor der Tür oder auf dem Briefkasten", gibt er zu. "Das ist aber nicht der Vorwurf. Der Vorwurf ist, dass Sie den Inhalt ausgetauscht haben", erinnert der Richter den Angeklagte. "Das war ich nicht!", beharrt dieser.

Auch ein Amazon-Manager kann bei der Wahrheitsfindung nicht weiterhelfen. Weder kann der Zeuge sagen, ob bei dem Angeklagten eine ungewöhnlich hohe Reklamationsrate bestand, noch ob der gelieferte Inhalt überhaupt minderwertig gewesen sei oder, als Beispiel, gleich teure Sportschuhe einer anderen Marke zugestellt worden seien. Es gibt auch keinerlei Zeugenaussagen, die den Angeklagten hinsichtlich der Manipulation belasten, offenbar geriet er nur aufgrund des eingestandenen Diebstahlsversuchs vor Weihnachten in den Fokus.

"Ich habe mich wirklich sehr, sehr geschämt, dass die Leute mich für einen Dieb gehalten haben!", erinnert sich H. an den Zeitpunkt, als die Polizei in der Firma erschien und ihn befragte. Er habe daraufhin freiwillig gekündigt und sich einen neuen Job gesucht. Mittlerweile verdient er als Arbeiter nur noch 1600 Euro monatlich.

Richter sieht wenige Beweise

Angesichts der Faktenlage spricht Etl den Angeklagten vom Vorwurf des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls hinsichtlich der manipulierten Pakete frei. "Wir sind sehr weit davon entfernt, zu einer Verurteilung zu gelangen", begründet der Richter. Weder könne man sagen, wo und wann die Waren ausgetauscht wurden, noch ob das mit Absicht geschah, und überhaupt wisse man nicht einmal, welcher Schaden entstanden sei.

Da H. zum versuchten Staubsaugerdiebstahl geständig und unbescholten ist, sieht der Richter die Möglichkeit einer diversionellen Erledigung und tritt dieses Verfahren an das zuständige Bezirksgericht Mödling ab. Da die Staatsanwältin keine Erklärung abgibt, ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 25.6.2024)