Im Bistro Balto gilt an diesem verregneten Nachmittag: je trüber der Blick, desto klarer die Meinungen. "Montargis ist eine tote Stadt", antwortet ein Mann mit einem Unterlippen-Piercing auf die Frage, wie es der Stadt hier am Südrand des Pariser Beckens gehe. "Ich bin hier aufgewachsen, ich weiß, wovon ich rede." Früher sei hier in der Rue du Général Leclerc dreimal die Woche Markt gewesen. Jetzt ist das Zentrum leer. Warum? "Die Leute haben keine Arbeit mehr, kein Geld."

Straße in Montargis
Viele Läden im Zentrum von Montargis sind geschlossen, manche sogar verbarrikadiert.
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Montargis, 15.000 Einwohner, anderthalb Autostunden südlich von Paris gelegen, ist eine jener gesichtslosen Kleinstädte Frankreichs, die langsam vor sich hin sterben. Fabriken schließen, Läden gehen in Konkurs, die Ärzte ziehen weg. Im Schaufenster der Immobilienagentur Côtés Particuliers sind Einfamilienhäuser für weniger als 100.000 Euro zu haben.

Weit weg vom Eiffelturm

Dieses schleichende Phänomen hat der bekannte Geograf Christophe Guilluy das "periphere Frankreich" genannt. Betroffen sind vor allem Orte wie Fameck, Tarare, Lillers oder Firminy – Ortsnamen, die es nie in die Abendnachrichten schaffen, obwohl sie die Kernstruktur des Landes bilden. Das wirkliche, das echte Frankreich, das ist nicht der Eiffelturm, sondern Montargis.

Einmal in letzter Zeit hat das verlorene Städtchen am Rande des Pariser Beckens Schlagzeilen gemacht: In der Nacht auf den 1. Juli 2023 brach die Gewalt wie ein Blitzschlag über Montargis herein. Jugendliche aus dem Einwanderermilieu fielen aus ihren Vierteln im Norden in das Zentrum ein und verwüsteten es stundenlang, systematisch. Wie in ganz Frankreich reagierten sie auf den Tod des von einem Polizisten erschossenen 17-jährigen Autofahrers Nahel Merzouk in Paris.

Leerstand prägt das Straßenbild.
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Am Tag danach war der Spuk in Montargis wieder vorbei. Einzelne Geschäfte der Einkaufsstraße Rue Dorée bleiben aber noch heute von Holzbrettern abgedeckt. An der Stelle der abgebrannten Apotheke klafft eine Baulücke; die Stützbalken, die das Nachbarhaus am Einstürzen hindern, hat die Stadtverwaltung mit Farbbändern geschmückt, flankiert von einem Blumentrog und einem Kunstwerk.

Läden machen dicht

Eine redselige Passantin mit künstlichem Haar und Schirm erzählt von sich, sie habe am Morgen danach gesehen, wie der Apotheker verloren in der Brandruine gestanden sei und geweint habe. Inzwischen habe er Montargis verlassen wie der Schokoladenverkäufer und der Schuhmacher auch.

Der Friseur im Stadtzentrum hält noch die Stellung. Mireille, die kleine, vife Besitzerin, erzählt, wie die "jeunes" – eine Chiffre für Einwandererjugendliche – das Schaufenster ihres Geschäftes mit einem Auto gerammt hätten, um dann einen Brandsatz ins Innere zu werfen.

Ihr Geschäft ist heute renoviert. Und "RN-Gelände", wie Mireille freimütig erklärt. Das Kürzel steht für "Rassemblement National", die Partei von Marine Le Pen. Der Kunde auf dem Friseursessel, ein junger Maler, schaltet sich ein: "Wir, die Franzosen, die Weißen, schlagen nicht alles kurz und klein. Wo es Probleme gibt, sind doch immer Araber dabei." Er hebt einen Zeigefinger, an dem Farbe klebt und behauptet: "Und das ist jetzt nicht rassistisch."

Vom Wartestuhl aus stimmt eine weißhaarige Frau zu: "Natürlich nicht! Aber", fügt sie an, "könnten Sie sich bitte etwas beeilen, Mireille? Ich warte schon seit zehn Minuten."

"Wende nicht zu abrupt"

Am Abend lädt der Lokalkandidat des RN, Thomas Ménagé, zu einem Wahltermin im Dorf Courtenay, wie Montargis im vierten Wahlkreis des Departementes Loiret gelegen. Der 32-jährige Immobilienjurist war einst dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy gefolgt, bevor er zu Le Pen überlief – wie so viele hier in Montargis. Ménagé war schon 2022 mit diskussionslosen 63 Prozent der Stimmen gegen einen prominenten Ex-Bildungsminister von Emmanuel Macron in die Nationalversammlung gewählt worden.

Thomas Ménagé 
Thomas Ménagé will den RN endlich regieren sehen.
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Am Sonntag will er das Wahlresultat noch übertreffen, verspricht er vor etwa hundert gestandenen Landwirten. "Der RN steht weder links noch rechts, wir folgen dem gesunden Menschenverstand", sagt er. Und: "Wenn wir die Parlamentsmehrheit gewinnen und die Regierung stellen, werden wir einige Sofortmaßnahmen durchwinken, zum Beispiel Mindeststrafen für gewisse Delikte. Die großen Wahlthemen vertagen wir auf den Herbst, damit die Wende nicht zu abrupt ausfällt."

Nicht alle freuen sich in Montargis auf den angekündigten RN-Sieg. In der Bäckerei gegenüber dem Bistro Balto bedauert eine freundliche Frau, dass die Stadt heute wie zweigeteilt sei. Die "jeunes", die hier vor allem türkischer und senegalesischer Herkunft seien, sehe man unter der Woche nie in der Stadt, da sie anderswo zur Schule gingen oder arbeiteten. Nur am Samstagnachmittag kämen sie in Gruppen, um in den Handy- und Kleiderläden zu shoppen. "Die übrigen Einwohner schauen sie scheel an", sagt die Frau. "Das Problem von Montargis ist, dass man hier neben-, nicht miteinander lebt."

Kein Wählermagnet

Diesen Umstand bedauert auch Mélusine Harlé, die 51-jährige Kandidatin des Macron-Lagers, die als Genossenschaftsdirektorin in Paris arbeitet und am Telefon ausführt: "Das Mitte-Lager könnte die einzelnen Bevölkerungsgruppen hier sicherlich am besten aussöhnen. Die extreme Rechte und die extreme Linke führen dagegen Hassreden gegen die Ausländer und die Reichen." Es stimme zwar, dass der Präsident im Moment kein Wählermagnet ist. Doch immerhin habe Macron die Arbeitslosigkeit gesenkt und den Leuten über die Pandemie geholfen. Auch hier, im armen Montargis, sagt Harlé. Doch: "Die Leute haben Angst, sie sind beunruhigt, verzweifelt. Das nutzen die Extremisten aus."

Mélusine Harlé
Macron-Anhängerin Harlé hofft auf Vernunft.
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Hat Harlé Wahlchancen gegen den RN-Kandidaten? Es ist zu bezweifeln: Im Bistro Balto kennt man nicht einmal ihren Namen. Der Mann mit dem Piercing nennt den Präsidenten abschätzig "l'autre": "Der andere da, er muss aufpassen, sonst endet er wie Ludwig XVI." Das heißt unter der Guillotine. Ein guter Antimonarchist und Republikaner, der Mann? Nein, er denkt und sagt zugleich laut: "Die Republik ist Scheiße." Klingt fast nach RN. (Stefan Brändle aus Montargis, 27.6.2024)