Man stelle sich vor, man ist im Urlaub und liegt am Strand, und während die Kollegen zu Hause in ihren stickigen Büros sitzen, vertritt einen der Avatar in der Teambesprechung: eine 3D-Version des Individuums, die genauso aussieht und spricht wie man selbst. Geht es nach Eric Yuan, dem Chef des Videokonferenzdiensts Zoom, könnte diese Utopie bald Wirklichkeit werden: Künftig soll es möglich sein, digitale Versionen einer Person für sich arbeiten zu lassen.

Dieser virtuelle KI-Klon würde nicht nur E-Mails und Anrufe beantworten, sondern auch in Videokonferenzen mitreden. Die kühne Vision: die Verdopplung des Selbst. Statt selbst in die Konferenz zu gehen, schickt man einfach den digitalen Doppelgänger vor.

Schwarz-weiß Bild einer Frau, die gespiegelt ist.
Digitale Zwillinge könnten uns schon jetzt in der Arbeit behilflich sein. Doch es gibt noch offene rechtliche Fragen.
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"Ich kann eine digitale Version von meinem Selbst schicken, sodass ich an den Strand gehen kann", sagte Yuan in einem Interview mit dem Tech-Blog The Verge. E-Mails, Telefonate, Konferenzen – wenn das der digitale Assistent erledigt, könnte dies Produktivität und Kreativität entfesseln. Und mehr Freizeit schaffen. In fünf oder sechs Jahren, glaubt der Zoom-Chef, könne die KI 90 Prozent der Arbeit erledigen.

Was mit ChatGPT auf uns zukommt, sei erst der Anfang der KI-Revolution, so Yuan. Heute nutze jeder dasselbe konfektionierte Sprachmodell, aber schon bald werde jeder eine personalisierte Version eines Sprachmodells haben, die aus den individuellen Sprachroutinen lernt und diese adaptiert. Doch damit nicht genug: Man könnte die Parameter des personalisierten Sprachmodells justieren und feintunen, sodass der Avatar zum Beispiel Schwächen der Person in Verkaufsgesprächen ausgleicht und hemdsärmeliger auftritt. Eine Art Upgrade des Selbst. Wer braucht noch Schulungen, wenn es KI gibt?

Digitaler Zwilling

In Zukunft soll es möglich sein, simultan mehrere digitale Zwillinge zu besitzen, deren Kleidung man wie einen Bildschirmhintergrund ändert. Wenn man will, dass die digitale Doppelgängerin in der wichtigen Videokonferenz einen roten Blazer trägt, stellt man das einfach in den Settings ein. Dem Zoom-Chef schwebt eine hybride Arbeitswelt vor, in der sich Mitarbeiter von verschiedenen Orten aus mit einer VR-Brille einklinken und in virtuellen Büros zusammenschalten.

Auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg will das Metaverse zur virtuellen Büro- und Shoppingwelt ausbauen, in der Avatare miteinander interagieren. Bekleidung, Accessoires, Aussehen – das lässt sich alles konfigurieren wie ein Neuwagen im Autohaus. Heute zweifarbiges Haar mit flippiger Bluse, morgen wieder seriöser Businesslook – die virtuelle Garderobe und Kosmetikpalette ist schier endlos. Tennisstar Naomi Osaka hat bereits eine eigene Kollektion für den "Meta Avatars Store" designt. "Dein Avatar ist dein digitales Abbild, das deine Identität, deine Persönlichkeit und dein Aussehen ganz nach deinen Vorstellungen widerspiegelt", heißt es bei Meta.

Schicke Outfits

Noch wirken die Avatare, die durch virtuelle Welten stapfen, recht hölzern, und auch das digitale Abbild von Mark Zuckerberg war grob geschnitzt und wurde im Internet verspottet. Doch Meta-Grafiker arbeiten unter Hochdruck an der 3D-Modellierung, damit die digitalen Doppelgänger realistischer werden: Die einst torsohaften Bildschirmfiguren haben im vergangenen Jahr Beine bekommen und bewegen sich nun etwas gelenkiger.

Mit dem Download von virtuellen Kleidungsstücken und Accessoires will Meta ein neues Geschäftsfeld erschließen. Als in der Corona-Krise die Menschen zu Hause in Videokonferenzen saßen, löste dies einen Beautyboom aus: Schönheitschirurgen und Kosmetikhersteller machten Rekordumsätze. Wenn aber künftig Avatare virtuelle Konferenzräume bevölkern und man sich Kleidung und Kosmetik einfach herunterlädt, muss sich die Industrie umstellen.

Avatare halten Einzug in die Arbeitswelt

So hat das US-Start-up Micro 1 einen KI-Personaler entwickelt, der automatisiert Bewerbungsgespräche durchführt. Der Avatar, der mit seiner runden Brille und den welligen braunen Haaren wie eine Comicfigur von Harry Potter aussieht, fragt den im Livestream zugeschalteten Bewerber nach dessen Berufserfahrung, die zuvor ein KI-System anhand des Linkedin-Profils analysiert hat.

Das Start-up Synthesia, das vom Chiphersteller Nvidia finanziert wird, entwickelt derweil hyperrealistische Avatare, die vom Nutzer kontrollierte Emotionen wie Lächeln oder Weinen ausdrücken und wahlweise als Anchorman oder Testimonial eingesetzt werden können. Von Alisha bis Vincent gibt es über 160 diverse Charaktere, die sich je nach Verwendungszweck modellieren lassen. Man legt einfach ein Skript vor, dann sagt es der Avatar auf.

Rechtliche Grauzone

Allein, die Technik wirft ethische und rechtliche Fragen auf: Darf ein Avatar Verträge abschließen? Kann ein digitaler Doppelgänger mit Vertretungsmacht ausgestattet werden? Was, wenn das Sprachmodell Dinge artikuliert, die das Original nicht sagen würde? Fällt das dann auf das Individuum zurück? Wie echt dürfen Avatare aussehen?

Wie heikel die digitale Repräsentation sein kann, zeigt ein Beispiel aus Hongkong: Dort wurde in diesem Jahr ein Banker um umgerechnet 24 Millionen Euro betrogen, nachdem er eine Phishing-Mail geöffnet hatte und in einem simulierten Videocall gelandet war. Die Kollegen in der Runde sahen so aus wie in echt und hörten sich auch so an. Doch in Wahrheit waren es Deepfakes: digitale Puppen, die ein Cyberkrimineller steuerte.

Kleine Kulturgeschichte des Avatars

Das Wort Avatar ist abgeleitet aus dem Sanskrit und bedeutet so viel wie "Herabkunft" bzw. das Erscheinen eines Gottes. In der hinduistischen Lehre spielen Avataras in Gestalt reinkarnierter Gottheiten bis heute eine wichtige Rolle. In den 1970er-Jahren fand der Begriff Eingang in die Computerkultur: Zwei amerikanische Highschool-Schüler programmierten auf der Lernplattform Plato, die an der University of Illinois entwickelt worden war, ein interaktives Videospiel und nannten es Avatar.

Der Spieler musste sich mit einem grafischen Stellvertreter im Teammodus mit Schwert und Rüstung durch die Gänge eines Gefängnisses kämpfen und konnte mit anderen Spielern im Chat kommunizieren. Eine Art frühes Fortnite, nur dass die Grafik zweidimensional war: Der Avatar war nicht mehr als ein pixeliges Strichmännchen. 1992 popularisierte Neal Stephenson in seinem Science-Fiction-Roman Snow Crash den Begriff, der die Vorlage für das Metaverse lieferte. Heute gibt es in Computersimulationen realistische 3D-Modelle, die dem Original sehr nahekommen. (Adrian Lobe, 2.7.2024)