Bereits seit drei Wochen wiederholt sich in Redaktionsräumen donnerstags und freitags ein bekanntes Ritual: Gegen 15.30 Uhr MESZ wandert der Blick in die Agenturen und auf die Internetseite des US Supreme Court. Werden die lang erwarteten Urteile diesmal dabei sein? Bisher folgte jedes Mal entspanntes Ausatmen, denn zwar hat das Höchstgericht auch diesmal zum Ausklang seines Gerichtsjahres, das gewöhnlich im Juni mit der Bekanntgabe der Urteile endet, schon mehrere wichtige Sprüche bekanntgegeben – etwa zur Frage der Waffengesetze oder zur Rechtmäßigkeit von Abtreibungspillen. Jene Urteile, auf die viele in Washington mit Bangen warten, waren aber bisher nicht dabei.

Folgenreiche Entscheidungen

Es geht dabei um nichts weniger als die Zukunft der Gewaltenteilung in den USA, die weitere Anwendbarkeit tausender amtlicher Verordnungen und die Frage, ob die Möchtegern-Putschisten vom 6. Jänner 2021, darunter Ex-Präsident Donald Trump, weiterhin mit der vollen Härte der US-Justiz verfolgt werden können. Weil die Fälle brenzlig sind, könnte es sein, dass sich der zunehmend selbst in die Kritik geratene Gerichtshof noch etwas Zeit lässt. Am Montag gab es Andeutungen, wonach das Gerichtsjahr heuer ungewöhnlicherweise bis in die erste Juliwoche verlängert werden könnte. Doch sicher ist das nicht, die Veröffentlichungen der Urteile erfolgen traditionsgemäß unangekündigt. Klar ist nur: Auch diesen Mittwoch, Donnerstag und Freitag soll es Veröffentlichungen geben.

DER STANDARD hat sich die wahrscheinlich folgenreichsten drei der zwölf noch offenen Fälle, die vor dem Gericht verhandelt wurden, angesehen. Eine schnelle Übersicht:

Das Urteil, mit dem vor zwei Jahren das Recht auf Abtreibung gestrichen wurde, sorgte auch zum Jahrestag wieder für Proteste. Nun aber wird das US-Höchstgericht bald neue umstrittene Sprüche fällen.
AP/Alex Brandon

"Wir schreiben hier Regelungen für die Ewigkeit", sagte der von Trump bestellte Richter Neil Gorsuch im Frühjahr bei einer Verhandlung zur Frage, ob Präsidenten auch nach ihrer Amtszeit noch Immunität genießen. Der Angeklagte Trump findet: ja – und hat deshalb geklagt. Vordergründig geht es also um ihn. Was Gorsuch aber meinte: Was auch immer das US-Höchstgericht in der Frage entscheidet, das gilt nicht nur für Trump, sondern für alle ihm folgenden Staatschefs.

Die Entscheidungsfreiheit, die das Gericht bei seiner Entscheidung genießt, ist groß: Theoretisch denkbar ist sowohl ein Urteil, wonach gar keine Immunität bestehe, als auch eines, wonach völlige Freiheit für Strafverfolgung herrschen würde. Beobachter gingen zuletzt davon aus, dass das Gericht einen Mittelweg wählen und unter anderem zwischen "privaten" und "öffentlichen" Handlungen während der Amtszeit unterscheiden wird.

Privat, und somit nicht von Immunität gedeckt, das wären Entscheidungen des Wahlkandidaten oder des Geschäftsmannes Trump. Und davon betroffen wären wohl Teile seiner Wahlbeeinflussungsversuche. Öffentlich, das wären seine Handlungen im Amt: also etwa Befehle im Krieg oder Dekrete in der Innenpolitik. Je nachdem, wo die Grenze gezogen wird, könnten die Prozesse gegen Trump von einer solchen Aufsplitterung massiv verzögert werden. Ein Urteil noch vor der Wahl im Herbst wäre endgültig unwahrscheinlich. Das Problem dabei aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden: Wird Trump im Herbst wiedergewählt, könnte er sich in fast allen Fällen selbst begnadigen. Dann wären die Prozesse jedenfalls vorbei.

Gedenken an die Opfer des 6. Jänner 2021. Ob die Verfolgung der Täter voranschreiten kann, hängt auch von einem Urteil des Supreme Court ab.
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Was tun, wenn man als Behörde mit einem Gesetz konfrontiert ist, das Interpretationsspielraum lässt? Das wollte im Jahr 1984 auch die Ölfirma Chevron wissen, der die Umweltschutzbehörde von Präsident Ronald Reagan die Nutzung von Gesetzeslücken erlaubt hatte. Dagegen hatte eine Umweltschutzorganisation zunächst erfolgreich geklagt, nach Berufung Chevrons vor dem Höchstgericht aber wurde entschieden: Behörden dürfen selbst "im Rahmen des Vernünftigen" interpretieren, wie genau die gesetzlichen Bestimmungen auszulegen sind. Von der "Chevron Deference", die damals die Ölfirma eingeklagt hatte, fühlen sich viele Firmen mittlerweile aber gehemmt.

Denn auf dem Urteil von 1984 basieren viele wichtige Regelungen im täglichen Leben: Umweltbestimmungen, Schulverordnungen, die genaue Auslegung von Waffenkontrollen und vieles mehr. Zahlreiche Konservative betrachten die Bestimmung als klassisches Beispiel dafür, dass die Regierung entscheide, was sie wolle, ohne sich um konkrete Gesetze zu kümmern. Geklagt haben nun zwei Herings-Fischereifirmen aus New England, Loper Bright und Relentless. Sie wollten sich von der Pflicht befreien, Fischereikontrolleure der Regierung auf ihre eigenen Kosten mit auf hohe See zu nehmen. Sollten sie gewinnen, was Prozessbeobachter für durchaus möglich halten, wird sich aber nicht nur der Heringsfang ändern. Ein Gutteil der Verwaltung in den USA müsste neu aufgestellt werden.

Ob der Supreme Court der Umwelt aus der Patsche hilft, wird auch ein noch ausstehendes Urteil zeigen.
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Der Fall hat das Potenzial, die Strafverfolgung aller wegen des 6. Jänner Angeklagten zu verändern und abzumildern. Das betrifft auch den bekanntesten unter ihnen, Ex-Präsident Trump. Angestrengt aber hat ihn ein Kapitol-Demonstrant namens Joseph Fischer. Hintergrund ist der sogenannte Sarbanes-Oxley Act. Der wurde 2002 vom US-Kongress beschlossen, Anlass war damals der Skandal um das Finanzunternehmen Enron. Dort hatten unter anderem Manager im Vorfeld des Zusammenbruchs und im Zuge der Ermittlungen Papiere geschreddert. Dieses Verhalten sollte fortan unter hohen Strafen stehen, das neue Gesetz sollte daher unter anderem die "Behinderung offizieller Maßnahmen" hart abstrafen. Gemeint waren, das zeigt die Entstehungsgeschichte, mit den "offiziellen Maßnahmen" vor allem Finanzprüfungen.

Im Falle des 6. Jänner wäre die "offizielle Maßnahme", deren Behinderung angeklagt wurde, nun aber die Beglaubigung des Präsidentschaftswahlergebnisses durch den Kongress. Denn genau diese wollten Demonstrierende ja verhindern. Auch zwei von vier Anklagepunkten in den Kapitolsturm-Ermittlungen gegen Trump basieren auf dieser Interpretation des Gesetzes. Offen ist nun, ob die eigentlich für Finanzvergehen gedachte und auf das Zerstören von Papieren gemünzte Bestimmung so breit eingesetzt werden kann. Auch einige Trump-Kritiker bestreiten das und halten diese Interpretation für eine gefährliche Einschränkung des Demonstrationsrechts. Die Höchstrichterinnen und -richter zeigten sich in der öffentlichen Verhandlung zum Thema ebenfalls skeptisch. (Manuel Escher, 26.6.2024)