Jeremy Corbyn
Jeremy Corbyn macht Werbung in eigener Sache.
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Vergangene Woche machte Jeremy Corbyn nach langer Zeit einmal wieder Schlagzeilen. In einer Fernsehdebatte sah sich Corbyns Nachfolger als Labour-Chef, Keir Starmer, zum wiederholten Male mit einer kniffligen Frage konfrontiert: Warum er denn seinem mittlerweile aus der Partei ausgeschlossenen Vorgänger 2019 zugebilligt habe, dieser würde "einen großartigen Premierminister" abgeben? Da druckst Starmer ein wenig herum, ehe er den denkwürdigen Satz sagt: "Besser als Boris Johnson wäre Corbyn allemal gewesen."

Im Kampf ums Unterhaus betont die alte Arbeiterpartei eigentlich stets, wie furchtbar die Jahre 2015 bis 2020 waren, als der Linksaußen am Ruder war. Beim jüngsten Urnengang im Advent 2019 erhielten die Sozialdemokraten 32 Prozent, was wegen des Mehrheitswahlrechts lediglich 202 Mandate ergab, die niedrigste Zahl seit 1935. Starmer betont seine Treue zum Königshaus, befürwortet die Modernisierung der britischen Atombewaffnung und hofft auf eine Annäherung an die EU – alles in krassem Gegensatz zum friedensbewegten Republikaner und EU-Skeptiker Corbyn.

Schwarze Wolke

Vor allem aber hat der mutmaßliche nächste Premierminister seine Partei vom Verdacht des Antisemitismus befreit, der wie eine schwarze Wolke auf Corbyns Amtszeit lag. Weil dieser das Problem noch immer für geringfügig hält, muss der 75-Jährige, Labour-Mitglied seit den 1960er-Jahren, diesmal als Unabhängiger antreten – und hat im Nord-Londoner Stadtteil Islington auch diesmal hervorragende Chancen.

Allen Umfragen zufolge wird Labour in zehn Tagen die britischen Innenstädte in Ein-Parteien-Zonen verwandeln. Islington gehört zu den wenigen Ausnahmen. Aber auch in einer Reihe anderer Wahlkreise müssen Labour-Abgeordnete mit bisher komfortablen Mehrheiten um ihren Sitz kämpfen. Viele von ihnen sind Frauen mit Migrationshintergrund.

Dazu gehören zwei Mitglieder von Starmers Schattenkabinett – vom 5. Juli an würden sie, falls ihr politischer Existenzkampf erfolgreich ist, Regierungsverantwortung tragen. Die einstige Konzertcellistin Thangam Debbonaire ist fürs Kulturressort vorgesehen. Doch allem Anschein nach hat sich die 57-Jährige viel zu lang in Sicherheit gewähnt. In den Fokusgruppen der Demoskopen klagen die Bürger des Wahlkreises Bristol Mitte darüber, die bisherige Abgeordnete lasse sich zu selten blicken. Im Februar reiste sie nach Indien, das Land ihrer Vorfahren, anstatt vor Ort für Labours Politik zu werben. Dabei machten schon damals prominente Grüne kein Hehl daraus: "Bristol Mitte gehört zu unseren Zielen."

Wackeliges Schattenkabinett

Die Öko-Partei schickt ihre Sprecherin Carla Denyer ins Rennen; Fernsehauftritte haben ihr in den vergangenen Wochen Aufmerksamkeit verschafft, die der bisher nur mit einem Mandat im Unterhaus vertretenen Partei sonst fehlt. Dringlichere Klimapolitik, die Abschaffung von Uni-Gebühren, eine Steuer für Superreiche – das grüne Wahlprogramm kommt gerade bei den vielen Studierenden gut an, seit der Kommunalwahl wird Bristols Mitte im Stadtrat ausschließlich von Grünen vertreten. Schon wird in Londoner Politikzirkeln darüber diskutiert, wer statt Debbonaire Kulturministerin werden soll.

So weit wird es in Shabana Mahmoods Fall wohl nicht kommen. Die junge Juristin holte ihren Wahlkreis Birmingham-Ladywood bei der jüngsten Wahl mit zwei Dritteln der Stimmen, sie ist fürs Justizressort vorgesehen. Doch ist ihr im Armenhaus der mittelenglischen Metropole ein ernsthafter Gegner erwachsen: Der Strafverteidiger Akhmed Yakoob kandidierte im Mai als Unabhängiger für das Bürgermeisteramt und holte aus dem Stand elf Prozent. Sein Programm: "For Gaza", so steht es auf allen Flugblättern.

Ein netter Mann

Wahlkampfauftritte absolviert Rushanara Ali mit zwei Bodyguards an ihrer Seite. 2010 war die frühere Thinktank-Leiterin die erste in Bangladesch geborene Frau, die es für Labor ins Parlament schaffte. Den Islamisten in ihrem Londoner Wahlkreis Bethnal Green aber ist die Muslima weder religiös noch fanatisch genug: Sie trägt kein Kopftuch und verweigert sich der Genozid-Rhetorik in Bezug auf Gaza, auch wenn sie längst vor ihrem Parteichef Starmer einen Waffenstillstand forderte.

Dessen Vorgänger nennt als sein großes Vorbild den Labour-Linksaußen Tony Benn (1925–2014). Der verließ das Unterhaus 76-jährig, "um mehr Politik zu machen". Hätte Corbyn nach 41 Jahren Parlamentszugehörigkeit nicht ebenfalls verzichten können? Monatelang war Corbyn, auch gegenüber dem STANDARD, dieser Frage ausgewichen. Im Wahlkampf kann er auch als Unabhängiger auf die tiefe Zuneigung der Islingtonians zählen, auch jener, die ihm politisch keineswegs nahestehen. "Na klar wird er gewinnen", sagt ein Kaffeehausbesucher. "Er ist doch so ein netter Mann." (Sebastian Borger aus London, 25.6.2024)