Germanistikprofessor in Graz, im Nebenamt Leiter des Literaturhauses, dazu Staatspreisträger für Literaturkritik: Bachmannpreis-Juror Klaus Kastberger.
Stephan Friesinger

Er hat jedes Jahr Gewinner im Rennen und nominiert oft auch die spannendsten Texte. In seinem zehnten Jahr in der Bachmannpreis-Jury ist der Grazer Professor Klaus Kastberger heuer zum ersten Mal auch deren Vorsitzender. Von Mittwoch bis Sonntag wird in Klagenfurt zum 48. Mal um den Preis gelesen. Gelegenheit für ein paar Grundfragen und den Blick hinter die Kulissen.

STANDARD: Woran werden die Kandidaten und das Publikum Ihren Vorsitz merken?

Kastberger: Der Juryvorsitz ist vor allem ein Wechsel der Perspektive, weil man dann in der Mitte sitzt. Die Sitzordnung ist auch sehr wichtig für die Dynamiken der Diskussionen, ich bin also sehr gespannt, wie sich das anfühlen wird. Ich werde aber sicher nicht den Oberlehrer heraushängen lassen.

STANDARD: Sie haben den Vorsitz aber wohl nicht nur wegen der Sitzposition übernommen ...

Kastberger: Man hat es mir angetragen, weil ich der alte Hase bin. Der Juryvorsitz meldet sich zweimal zu Wort, ganz am Anfang und am Ende des Bewerbes, sonst ist es eine Funktion, die ordnet. Man ist Ansprechstation für die Veranstalter und schaut, was gerade anliegt, wo es möglicherweise Probleme gibt.

STANDARD: Insa Wilke hat nie abends eine Mail geschrieben, morgen wird weniger gestritten?

Kastberger: Nein, niemand hat etwas dagegen, wenn es bei den Diskussionen hoch hergeht, und es gibt hinter den Kulissen auch gar keine weitere Kommunikation über die Texte. Es gibt an Jurygesprächen nur das, was im Fernsehen zu sehen ist. Das ist, gerade auch nach der Diskussion zuletzt in Deutschland, eine absolute Stärke des Klagenfurter Formats.

STANDARD: Es ging bei der deutschen Diskussion darum, dass sich zwei Jurorinnen des vom Haus der Kulturen in Berlin vergebenen Internationalen Literaturpreises beklagt haben, ihre Jurykollegen hätten ihre Preisentscheidung von politischen und identitätspolitischen Kriterien abhängig gemacht statt von den eigentlich geforderten literarischen.

Kastberger: Es wurde dann diskutiert, was eine Jury darf und was nicht und was von ihrer Arbeit nach außen dringen darf. Beim Bachmannpreis kann nun aber ein jeder dem freien Spiel der Argumente zuschauen und selbst sehen, ob das jetzt ästhetische oder politische Kriterien sind, die herangezogen werden, und was sonst noch alles herangekarrt wird, um zur Entscheidung zu kommen. Auch soziale Faktoren und beispielsweise wie die Jury zueinander steht, spielen da eine immense Rolle.

STANDARD: Dieses "freie Spiel der Argumente" ist für viele genauso spannend wie die Texte selbst ...

Kastberger: Die Jurydiskussionen sind der Kern des Ganzen, darauf wartet das Publikum und darin legitimiert sich der Betrieb auch selbst. In dem Augenblick jedoch, da die Siegerin oder der Sieger verkündet wird, geht es nur mehr um sie oder ihn – und das ganze Drumherum versinkt zurück in ein schönes Nichts des Hintergrundes.

STANDARD: Die Diskussionen sind ein krasses Gegenprogramm auch zu Booktok-Influencern, die alle sehr gefühlig sind. Es ist immer wieder vom Auspacken des germanistischen Bestecks die Rede ...

Kastberger: Viele schätzen es, dass man hier einmal vorgeführt bekommt, aus welchen Gründen man einen Text für gut oder schlecht halten kann.

STANDARD: Was soll und darf eine Jurydiskussion für einen Text leisten? Ihre Vorgängerin war immer bemüht, Referenzen und Assoziationen zu finden, die auf den Text einzahlen. Wann geht das zu weit und man erschafft etwas, das der Autor nicht geschaffen hat?

Kastberger: Das handhabt jeder Juror, wie er will. Einen speziellen Reiz übt aus, dass die sieben Juroren und Jurorinnen ganz unterschiedliche Kriterien, Herangehensweisen und Qualitätsmaßstäbe haben. Ich halte es deshalb auch für wesentlich, dass die Juroren alleinig die Kandidaten auswählen, das sorgt für Emotionen. Das Eigensinnige und das Abseitige haben in Klagenfurt eine Chance, sich einer großen Öffentlichkeit zu stellen. Es ist jedes Jahr spannend für mich, zu sehen, was es in dieser deutschsprachigen Literatur alles gibt. Mithu Sanyal beispielsweise hat einen völlig anderen Wahrnehmungsbereich als ich und bringt oft Autorinnen, die ich nicht gekannt habe.

STANDARD: Wie oft liest man einen solchen Text durch, ehe man dann in Klagenfurt ein Urteil abgibt?

Kastberger: Manche Texte lese ich vorab einmal, manche dreimal, wenn etwas Spannendes darin war. Eine zu intensive Vorbereitung würde mir die Spontaneität nehmen. Für mich ist wichtig, dass beim Bewerb nicht alles schon gegoogelt, jede Stilfigur analysiert ist. Früher kannten die Juroren die Texte vorab gar nicht, das würde mir auch heute noch sehr gefallen. Ich bewerte die Texte vorher und schreibe mir mittlerweile auch auf, was ich von ihnen halte, weil sich das im Lauf der vier Tage ändert. Das erste Statement ist vielleicht noch vorbereitet, aber ich finde es schön, wenn die Jurymitglieder dann stark aufeinander reagieren, sich spontan Gruppen bilden und während einer 30-minütigen Diskussion auch das eigene Werturteil in Fluss gerät. Denn so knöchern, wie manche annehmen, ist es gar nicht.

STANDARD: Welchen Einfluss haben im weiteren Sinne politische Überlegungen darauf, wen Sie einladen?

Kastberger: Die spielen bei mir keine unmittelbare Rolle, weil ich davon ausgehe, dass jeder Text eine gesellschaftspolitische Intention hat. Zugleich sind ästhetische Werturteile nichts, was sich abgehoben in einem Seminar abspielt, sondern immer nur vor gesellschaftlichen Hintergründen. Ästhetische Urteile sind einer gesellschaftlichen Kontrolle ausgesetzt, sie kommen ja aus der Gesellschaft. Was sollten ästhetische Kriterien ohne politische Faktoren auch sein? Ein Normenkatalog, den Goethe vorgegeben hat und der sich nicht ändert? Das eine gibt es ohne das andere nicht.

STANDARD: Welche Texte sind Ihnen die liebsten in Klagenfurt?

Kastberger: Die, die das 25-Minuten-Leseformat füllen und einen dramaturgischen Bogen haben, der da hineinpasst. Das kann ein Romanausschnitt sein oder eine Zusammenstellung, doch wenn ich das Gefühl habe, da werden zu viele Figuren etabliert und ich möchte eigentlich sehen, wie sich die alle entwickeln, aber es ist kein Platz dafür, finde ich das nicht so gut. Ebenso wichtige Merkmale sind originelle Wendungen und ein sprachlicher Eigensinn. Wesentlich ist zudem die Story des Autors, der Autorin: Er kommt als Alkoholiker aus der DDR her und fährt als großer Dichter wieder weg. Etwas Besseres als solche medialen Wandlungsprozesse gibt es in Klagenfurt nicht. Da feiert sich das Medium dieses Preises, das Fernsehen, gleichsam selbst.

STANDARD: Das Publikum schmilzt da natürlich dahin, aber auch Juroren sind empfänglich?

Kastberger: Ich glaube schon, dass das Bild des Autors und die biografischen Hintergründe in der Interpretation von Texten insgesamt wesentlich sind. Das strukturalistische Herangehen, dass der Autor und die Autorin überhaupt nichts sind und der Text alles, habe ich immer schon abgelehnt. Das Autoren-Image ist immer wichtig – und am besten ist es eben überhaupt, wenn der Preis es schafft, etwas anderes aus dem zu machen, der hingefahren ist. Das hat eine ungeheure Sogwirkung und Kraft. Und in Klagenfurt wollen schlussendlich alle sehen, wie ein Dichter oder eine Dichterin gebacken wird.

STANDARD: Wie gut bildet Klagenfurt ab, was in der Literatur gerade los ist? Oder sollen Beiträge auch Vorbild sein für andere Autoren und wirkt der Bachmannpreis damit normativ?

Kastberger: Der Bachmannpreis kann enormen Einfluss auf literarische Karrieren haben. Zumindest für jene, die es schaffen, in der von Verlagen vordefinierten Romanliteratur zu landen, ist es ein unglaublicher Boost. Nicht nur als Gewinner. Medien, Verlage und Agenten sind vor Ort präsent, Scouts sind da und suchen nach dem Neuen, noch nicht verlagstechnisch Gebundenen. Die Autoren merken diese Wichtigkeit auch. Es ist eben nicht nur ein Bewerb unter vielen, sondern ein zentraler Event des Betriebes.

STANDARD: Was haben Sie in Klagenfurt über Gegenwartsliteratur gelernt?

Kastberger: Dass es sehr, sehr viele hochinteressante Autoren und Autorinnen gibt, die sich teils in ganz anderen oder auch ganz außerhalb der Traditionslinien befinden, die ich für maßgeblich halte. Gerade bei jungen Autoren ist es oft so, dass man sich mehr oder weniger unreflektiert hinsetzt und schreibt. Man hat nicht mehr unbedingt das Gefühl, dass man schon 300 Bücher gelesen haben muss, ehe man das eigene angeht. Wobei: Dieser Ansatz kann freilich auch schiefgehen. Gelernt habe ich auch, dass es teils katastrophale Nominierungen von Mitjuroren gibt. Derartig grottenschlechte Texte, dass man sich fragt, wie kann es sein, dass jemand so etwas nominiert hat.

STANDARD: Nicht nur das, manchmal hat man auch das Gefühl, Juroren haben ganz andere Texte gehört als man selbst ...

Kastberger: Auch kommt es vor, dass die beiden von einem Juror nominierten Texte so unterschiedlich sind, dass man sich fragt, wie die überhaupt unter ein gemeinsames Geschmacksurteil fallen können.

STANDARD: Muss man voll hinter einem Text stehen, den man nominiert, oder kann man ihn auch einfach interessant finden?

Kastberger: Ich stehe immer voll hinter meinen Kandidatinnen. Nur um einen anderen Juror zu ärgern, habe ich noch nie einen Text nominiert.

STANDARD: Sehr viele Ihrer Kandidaten haben einen Preis erhalten. Wie schaffen Sie das? Melden sich schon mehr oder bessere Autoren bei Ihnen, weil sie wissen, der Kastberger bringt uns zum Sieg?

Kastberger: Ich habe einen passablen Schnitt, ja, aber ich weiß eigentlich auch nicht so ganz genau, warum. Vielleicht sollte ich eine Agentur gründen, vielleicht war aber auch alles nur ein Zufall.

STANDARD: In den letzten zehn Jahren haben vor allem Frauen gewonnen. Warum?

Kastberger: Wahrscheinlich schrieben sie einfach die besseren Texte in den letzten Jahren. Ich wäre auch durchaus dafür, dass das so bleibt. Immerhin habe ich heuer zwei Autorinnen nominiert. (Michael Wurmitzer, 26.6.2024)