Schottlands Fans sind stimmkräftig und gut gelaunt.
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Das kleine Mädchen aus der Kölner Wendelinstraße 40 lernt an einem schönen Sommerabend mehr Menschen kennen als in seinem ganzen bisherigen Leben. 34 Minuten lang zieht die schottische Prozession an ihrem Haus vorbei, anfangs winkt die etwa Dreijährige den vorbeiziehenden Massen noch vom Fenster im ersten Stock zu, später steht sie samt Eltern am Straßenrand und bekommt einen vorsichtigen Fistbump nach dem anderen. 34 Minuten Erinnerungen, 34 Minuten ausgelassene Freundlichkeit.

Es ist Schottland-Match, und wo Schottland-Match ist, ist viel gute Laune. Aus logistischen Gründen durfte die "Tartan Army" nur bei ihrem zweiten Gruppenspiel in Köln einen Fanmarsch organisieren, 35.000 schlossen sich ihm an. Zehntausende weitere Fans kamen direkt zum Stadion oder feierten in der Innenstadt weiter. Schotten fliegen nicht nur zu einem Großereignis, wenn sie Tickets haben. Dass sie nach dem Last-Minute-0:1 gegen Ungarn die Heimreise antreten müssen, betrübt viele Gastgeber.

Das Standardmodell.
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Fußballfans gewinnen selten Beliebtheitspreise. Sie sind tendenziell betrunken, treten oft als Horde auf und hinterlassen Müll. Die Tartan Army ist fast kollektiv betrunken, tritt nur als Horde auf und hinterlässt Müll und Glasscherben – und trotzdem schwärmen Gastgeber und Gegnerfans von ihnen. Die Tartan Army ist nämlich vor allem: nett.

"Für uns ist es eine Frage der Ehre, dass wir uns benehmen. Wir fühlen uns, als würden wir Schottland repräsentieren", sagt Hamish Husband. Der 66-Jährige ist so etwas wie das Sprachrohr der schottischen Fans, vor dem Match gegen die Schweiz verbringt er den Nachmittag mit seinen Landsleuten vor dem Kölner Dom. Der Vorplatz ist ein Meer von Dunkelblau. Mit der Trinkfreudigkeit der Schotten halten nicht einmal die eifrigen deutschen Pfandsammler mit, überall stehen leere Flaschen.

Der Vorplatz des Kölner Doms war fest in schottischer Hand.
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Freilich: Wo gesoffen wird, fallen Späne. Auch Schotten urinieren überallhin, auch sie zerbrechen Glasflaschen, auch sie sind laut. Aber sie machen das mit einer fast schon übertriebenen Freundlichkeit wett. Diese ungehobelten Herzlichkeitsmaschinen wirken, als würden sie nur auf die nächste Gelegenheit zur guten Tat oder auf die nächste Völkerverbindung warten. Das Video, in dem zwei Schotten ihren Regenschirm über einen alten Menschen mit Rollator halten, war ein Social-Media-Hit mit Ansage. Nicht nur putzige kleine Mädchen, sondern auch wesentlich weniger putzige STANDARD-Redakteure kassieren beim Fanmarsch High Fives in Serie. Die Hände sind unfassbar pickig. Auch mit gegnerischen Fangruppen gibt es nur freundlichen Austausch, solange es keine Engländer sind. Etwaige Schmähgesänge sollen in erster Linie lustig sein.

Warum sind die Schotten so anders?

"Früher waren sie einfach nur ausgelassen", sagt Richard Giulianotti dem STANDARD. Der Soziologe von der University of Loughborough forschte schon in den frühen Neunzigern zu Schottlands Fankultur. "In den 1980ern gab es dann etwas gute Presse über ihre Auftritte. Das hat ihnen gefallen." Ein zentraler Faktor der Entwicklung sei die Abgrenzung von England gewesen, sagt Giulianotti. "Die Engländer wurden als gewalttätig gesehen, also haben die Schotten gesagt: Wir sind freundliche Fans, keine Hooligans." Mittlerweile stehe die Tartan Army aber nur mehr für sich selbst.

England 1-2 Scotland, International 1977 (Wembley pitch invasion)
Adrian Houghton

Die schottische Liebe zu Fußballreisen entstammt den früher alljährlich ausgetragenen Duellen mit England. Jedes zweite Jahr fuhren Zehntausende zum Auswärtsspiel im Wembley. "In den 1970ern waren mehr Schotten als Engländer im Stadion", erzählt Hamish Husband. 1989 endete die Tradition, 105 Jahre nachdem die Lieblingsfeinde das erste Länderspiel der Fußballgeschichte ausgetragen hatten – auch aus Sicherheitsgründen, sagt Giulianotti. "In den 1980ern waren die Spiele bedrohlich."

Heute scheint die Tartan Army gegen Gewaltexzesse nachhaltig immun zu sein. "Es gibt im schottischen Klubfußball eine Hooligan-Subkultur, einige von denen sind auch mit der Nationalmannschaft unterwegs. Dort sehen sie sich aber als Botschafter ihres Landes", sagt Giulianotti. Es habe durchaus den Versuch gegeben, im Rahmen des Nationalteams eine Hooligangruppe zu formieren, aber die habe nie Tradition entwickelt. Interne Konfrontationen sind ebenso unerwünscht, Trikots der großen Glasgower Rivalen Glasgow und Celtic sieht man bei der Tartan Army nie. Giulianotti betont den Faktor des "Self-Policing": Will jemand ein Tabu brechen, wird er von der Menge unter Kontrolle gebracht. Einzig beim Thema Alkohol ist das Self-Policing noch ausbaufähig, immer wieder wanken Schotten an der Grenze zur Bewusstslosigkeit. Giulianotti hat auch dazu geforscht. Kurzfassung: Die saftln g’scheit.

Kühlschrank auf Schottisch.
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Statt zu schlägern, wird gesungen. Meistens dreistimmig: laut, falsch und mit Inbrunst. Klassiker sind No Scotland, No Party, We’ve Got John McGinn oder die inoffizielle Hymne Flower of Scotland oder We Hate England More Than You. Die Chorsänger glänzen mit kollektiver Textsicherheit, das macht die Sache auch für Außenstehende mitreißend. Der Kölner Fanmarsch lockt sogar Menschen im Deutschlandtrikot ans Fenster, obwohl ihre Mannschaft gerade Ungarn schlägt. Eine Petition für ein jährliches, alternierend in Köln und Glasgow ausgetragenes Freundschaftsspiel Deutschlands gegen Schottland hat bereits tausende Unterschriften.

"Wir sind einfach hier, um Spaß zu haben. Es ist nicht so, dass die Spiele nicht wichtig sind, aber wir wissen, dass wir die EM nicht gewinnen", sagt Husband vor dem zweiten Spiel in Köln. Er will damals "einfach nur mal ins Achtelfinale. Ich bin 66 Jahre alt, ich verfolge diese Mannschaft seit 50 Jahren." Er muss vier weitere Jahre warten – so wie Europas Fußballfans. (Martin Schauhuber aus Köln, 24.6.2024)