Der Koalitionsstreit über die Zustimmung von Umweltministerin Leonore Gewessler zum EU-Renaturierungsgesetz ist nicht beigelegt. Inhaltlich hat sich der Konflikt sogar auf ein zusätzliches Thema ausgeweitet. Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt, der Gewesslers Alleingang als unrechtmäßig bezeichnet hatte, agiere nicht unabhängig, kritisierte die Ministerin am Wochenende – DER STANDARD berichtete. Daher habe sie sich von anderer Seite "umfassende juristische Expertise" geholt, die sie überzeugt habe: "Ich habe mich rechtskonform verhalten."

Gewessler, Nehammer, Kogler
Regierung im Konfliktmodus: Die Grünen fordern mehr Unabhängigkeit für den Verfassungsdienst.
Foto: APA/Tobias Steinmaurer

Der Verfassungsdienst jedoch müsse "weisungsfrei" gestellt werden, um seiner Aufgabe – die legistische Vorbereitung von Gesetzen, Begutachtungen sowie die Vertretung der Republik vor Höchstgerichten – künftig ohne Einflussnahme nachkommen zu können. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) äußerte sich ähnlich.

Was ist von diesen Ansagen zu halten, gegen die die ÖVP seither mit schweren Verbalgeschützen angeht? "Unterwandert" die grüne Ressortchefin damit tatsächlich den Rechtsstaat, wie es Verfassungsministerin Karoline Edtstadler ausdrückt? Arbeitet der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt ohne jegliche Einflussnahme? Oder ist an der Grünen-Kritik etwas dran?

Frage: Ist der Verfassungsdienst nun weisungsfrei oder nicht?

Antwort: Als Teilorganisation des Bundeskanzleramts ist er dem ministeriellen Weisungswesen unterworfen. Die mehr als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der unter der Leitung des Juristen Albert Posch stehenden Sektion erhalten ihre Aufträge als Weisungen, die das Thema und den gewünschten Erledigungszeitrahmen umfassen. Mehr aber nicht, sagt der Verfassungsrechtsexperte Bernd-Christian Funk: "In fachlichen Dingen besteht absolute Unabhängigkeit." Anders würde die Arbeit des Verfassungsdiensts auch ihren Zweck, "eine ergebnisoffene juristische Expertise", verfehlen und wäre "eine Vergeudung von Ressourcen". Insofern, so Funk, seien die Grünen-Ansagen "unvollständig und irreführend".

Frage: Gehen also Gewessler und Kogler mit ihrer Kritik zu weit?

Antwort: Nicht unbedingt. Die von Funk betonte inhaltliche Unabhängigkeit des Verfassungsdiensts im Bundeskanzleramt ist nirgends festgeschrieben. Vielmehr seien immer deren Leiter, hochrangige Juristen, dafür eingestanden, sagt der Verfassungsexperte unter Hinweis auf Ludwig Adamovich, der die Sektion von 1977 bis 1984 leitete und zeit seines Lebens als Jurist arbeitete. Anders der derzeitige interimistische Leiter Posch, der in der Bundesregierung Kurz I als Kabinettschef des damaligen Kanzleramtsministers Gernot Blümel (ÖVP) einen kurzen Ausflug in die Politik machte, was ihm Kritiker ankreiden.

"Es gilt, einen realistischen Blick auf die Verwaltungsstrukturen zu richten."
Europarechtsexperte Peter Hilpold

Frage: Die Person des Leiters kann aber wohl nicht allein bestimmend für unabhängige Arbeit sein?

Antwort: Nein, wenn man den Ausführungen des Völker- und Europarechtlers an der Uni Innsbruck, Peter Hilpold, folgt. Zu Rechtsfragen gebe es verschiedene Auslegungen – und es sei anzunehmen, dass in einer ins Bundeskanzleramt eingebundenen Einheit eine unter Umständen bevorzugte Auslegung bekannt sei. Natürlich gebe es auch viele "neutrale" Fragen, hinsichtlich derer die politische Spitze indifferent sei, aber bei konflikthaften Themen wie dem Verhalten bei der Abstimmung über das Renaturierungsgesetz in Luxemburg sei die Lage wohl anders. Damit bedürfe es auch keiner Weisungen.

Frage: Warum sollten hochqualifizierte Juristinnen und Juristen ihre fachliche Expertise an solchen taktischen Erwägungen ausrichten?

Antwort: Man wisse, welchem Team man zugehöre, meint Hilpold. Ministerien müssen politische Aufgaben umsetzen. Unter mehreren möglichen Auslegungen werde jene gewählt, die die Umsetzung des politischen Programms ermögliche. Das sei auch völlig legitim und legal, gleichzeitig solle man aber solchen Rechtsdiensten keine gerichtsähnliche Funktion zuschreiben. Zwar könne die Unabhängigkeit ihrer Mitarbeiter durch das Dienstrecht gestärkt werden, doch Österreich sei hier den falschen Weg gegangen. Das Beamtendienstrecht der Vergangenheit habe beachtliche Unabhängigkeit verliehen, Vertragsbedienstete hingegen seien jederzeit kündbar. Das Ganze, so Hilpold, sei ein Problem weit über den Kanzleramt-Verfassungsdienst und Österreich hinaus. "Es gilt, einen realistischen Blick auf ministerielle Strukturen zu richten." Organisationen wie der Verfassungsdienst müssten aus den Entscheidungshierarchien herausgenommen werden.

Frage: Auf der praktischen Ebene: Wo hat der Verfassungsdienst bis dato regierungskonform, wo abweichend Stellung genommen?

Antwort: Ablehnend äußerte sich das Gremium zum Beispiel in der Zeit der Corona-Pandemie, als der damalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) im Sommer 2020 Änderungen beim Epidemie- und Covid-19-Gesetz vorschlug. Ein besonderer Dorn im Auge war den Juristinnen und Juristen dabei das Betretungsverbot für öffentliche Orte. Widersprüchlich hingegen war das Vorgehen 2018, als Türkis-Blau den später von Höchstgerichten gehobenen Plan entwickelte, die Familienbeihilfe für Kinder von in Österreich arbeitenden Drittstaatsangehörigen an die dortigen Lebenshaltungskosten anzupassen, also zu indexieren. Eine erste ablehnende Stellungnahme wurde rasch aus dem Netz genommen und durch eine belanglose Expertise ersetzt. (Irene Brickner, 24.6.2024)