Anfang Juni erreichte mich die Schlagzeile "Fast Hälfte der Schüler bekommt Nachhilfe" auf orf.at. Warum brauchen so viele Schülerinnen und Schüler Nachhilfe? Es gibt keine einfachen Antworten, es bleibt oft bei der Suche nach den Schuldigen: Der Frontalunterricht sei schuld! Die Lehrkräfte seien schuld! Jedes Kind soll in die für ihn oder sie passende Schule gehen! Natürlich kommen die Schülerinnen und Schüler selbst in dieser Begründungssuche eher selten vor. Doch wer sich im Unterricht die Fingernägel lackiert oder lieber sein Instagram-Profil aktualisiert, trägt wohl auch nicht zum gemeinsamen Gelingen bei. Als Mathematik-Nachhilfelehrer mit Schwerpunkt AHS-Oberstufe möchte ich nun aus der Praxis erzählen.

"Als Nachhilfelehrer sehe ich es als meine Aufgabe, Lücken zu füllen und die Unterstützung zu bieten, die Schülerinnen und Schüler brauchen."
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Die Lehrkräfte

Fangen wir bei den Lehrerinnen und Lehrern an. "Im vergangenen Schuljahr hatte unsere Tochter keine Probleme in Mathematik. Aber jetzt in der Oberstufe hat sie einen neuen Lehrer bekommen, und der kann halt nicht so gut erklären!", wird mir oft von Eltern erzählt. Das Narrativ, dass, wenn der Lehrer oder die Lehrerin bloß besser erklären könnte, sich automatisch alle besser auskennen würden und niemand Nachhilfe bräuchte, ist leider im Reich der Märchen angesiedelt. Natürlich ist ein guter Unterricht immer wünschenswert, aber dieser bedient lediglich das lernstärkste Fünftel der Klasse, das die nächste Schularbeit in jedem Fall schafft. Und das führt mich gleich zum nächsten Punkt.

Der Unterricht

Ich halte es persönlich für eine überholte Annahme, dass das direkte Unterrichten, also die lehrerzentrierte Wissensvermittlung, so zentral wichtig sei. Fakt ist: Die Wissensvermittlung bekommst du heute via Youtube ins Kinderzimmer geliefert. Wie diverse Ableitungsregeln funktionieren, wie sich die Halbwertszeit von Atomen berechnen lässt und wie ein Doppelbruch aufgelöst werden kann, ist nicht mehr einzig der Lehrkraft vorbehalten zu erklären. Auch die Annahme, dass Kinder Mathematik am besten gemeinsam und gleich schnell lernen, ist nicht belegbar.

Gerade in der AHS-Oberstufe mit ihren typischen Grundkompetenzen (vulgo: Ankreuzbeispiele) bedürfte es locker zweimal so viel Zeit zum Üben, Verstehen und Festigen als wie zur bloßen Wissensvermittlung. Und genau da liegt das Problem: Der Stoff wird aus notorischem Zeitmangel oft schnell unterrichtet und "durchbesprochen", während die Übungszeit, wo die Lernaktivität im Vordergrund und die Lehraktivität im Hintergrund stehen, fast überall zu kurz kommt! Ich als Nachhilfelehrer biete genau diese Übungsmöglichkeiten an, weil der Bedarf hoch ist. Und es geht eigentlich schon länger nicht mehr um das klassische "Nachhelfen", sondern um das fachliche Begleiten bei Übungsphasen, die es in der Schule viel zu selten gibt.

Und jene Eltern, die mir gegenüber bemängeln, dass die Mathematiklehrerin oder der Mathematiklehrer die Hausübungen nicht korrigiert, müssen verstehen, dass dafür ebenfalls keine Zeit mehr ist. Im besten Fall stehen die Ergebnisse der letzten Hausübung an der Tafel. Genauso ist es ein Märchen, dass die Schüler Fragen zu den nicht verstandenen HÜ-Beispielen stellen können. Würdest du als Lehrkraft ernsthaft darauf eingehen, kommst du mit dem geplanten neuen Stoff oft nicht weiter. In jedem Fall bleibt ein unbefriedigender Kompromiss.

Das Schulsystem

Kommen wir daher zum Schulsystem. Wird im Sommersemester der 7. Klasse nur eine einzige Schularbeit geschrieben, dann ist das für alle Seiten ein Albtraum: Nahezu alles hängt von dieser einzigen Schularbeit ab. Ein halber Punkt zu wenig, und du stehst auf Nicht genügend. Dass dann oder schon viel früher die Nachhilfemaschinerie angeworfen wird, erklärt sich von selbst. Und wer glaubt, dass die Mitarbeit in die Note einfließt, findet hier oft Märchen Nummer drei.

Es gibt bei diesem Thema einen interessanten Knackpunkt: Seit Corona kennen wir die sogenannten Kompetenzchecks, die sich de facto eignen, um laufend kleinere Leistungsfeststellungen durchzuführen. De jure dürfen sie aber nicht beurteilt werden, da in einem Gegenstand, in dem Schularbeiten geschrieben werden, keine Tests (bei Unterbrechung des Unterrichts) durchgeführt und benotet werden dürfen.

Wenn in der AHS-Oberstufe alles von nur wenigen Schularbeiten abhängt, dann braucht man sich über Nachhilfe als vorab installierte Standardbegleitung nicht wundern.

Die Matura

Auch die (neue) Matura selbst trägt ihren Teil bei. Wie ich schon in früheren Texten beschrieben habe, hat sich hier das System massiv gewandelt. Wo damals Schema-F-Beispiele brav geübt wurden, müssen heutige Oberstufenschülerinnen und -schüler die bereits erwähnten Grundkompetenzen handhaben (rechnen, verstehen, interpretieren, begründen) können. Seit rund zehn Jahren wünscht sich die große Mehrheit meiner Kunden begleitende, wöchentliche Fixtermine von Oktober bis Juni für ihre Kinder. Akutnachhilfe kurz vor der Schularbeit funktioniert schon lange nicht mehr, da auch immer wieder Stoff aus früheren Jahren detailgenau abgefragt wird.

Wie funktioniert das nun mit den Grundkompetenzen in der AHS-Oberstufe? Grundkompetenzen sind Handlungs- beziehungsweise Verständnisbausteine eines Themas. Beauftragte Item-Writer erstellen immer wieder neue Varianten, um diese einzelnen Kompetenzen möglichst gut abbilden beziehungsweise abfragen zu können. Und die Zeit, wo früher Lehrer und Lehrerinnen die Matura selbst zusammengestellt haben, ist seit 2014 vorbei. Eine Zentralmatura orientiert sich am vorgegebenen Soll-, nicht am Ist-Stand nach vier Jahren Oberstufe.

Der zeitlich unterdimensionierte Schulunterricht kann unsere Kinder nicht auf diese Vielfalt vorbereiten. Der privat finanzierte Nachhilfeunterricht muss im Rahmen seiner Dienstleistung alles tun, um Erfolge zu erzielen.

Eltern, Schülerinnen und Schüler

Zu guter Letzt geht es um Eltern, Schülerinnen und Schüler selbst. Zu Beginn habe ich ein Zitat von Bildungsminister Martin Polaschek benutzt, das sinngemäß lautete, dass "alle Kinder in die für sie passende Schule gehen sollen". Und wer legt das fest? Anfang der 1970er-Jahre wurde, Gott sei Dank, die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium abgeschafft, da ein entsprechendes Zeugnis genügte. Innerhalb der letzten 50 Jahre wurde aber das Gymnasium zur Gesamtschule, welches aber historisch nie dafür vorgesehen war. Die Gretchenfrage lautet also: Sitzen so manche unsere Schüler und Schülerinnen in der richtigen Schule? Oder werden sie durch Nachhilfe an die Schule angepasst? Nur selten verlassen Schülerinnen und Schüler die Oberstufe aus freien Stücken, meistens werden sie so lange systematisch mit Fünfern eingedeckt, bis ein weiterer Schulbesuch keinen Sinn mehr macht. Die Notengebung erfüllt also ihre Allokationsfunktion. In vielen Fällen wurde jedoch viel zu lange Motivation, Energie und Geld zunichtegemacht.

Der Bedarf an Nachhilfe ist ein Symptom für tiefere strukturelle Probleme im Bildungswesen. Zeitmangel, unterschiedliche Lernbedürfnisse, hoher Prüfungsdruck und fehlende individuelle Betreuung tragen dazu bei, dass viele Schüler und Schülerinnen Nachhilfe benötigen. Als Nachhilfelehrer sehe ich es als meine Aufgabe, diese Lücken zu füllen und ihnen die Unterstützung zu bieten, die sie brauchen. Selbst die engagiertesten Lehrer und Lehrerinnen können in den wenigen Schulstunden keine Wunder bewirken. Ich könnte es genauso wenig. (Rainer Saurugg, 25.6.2024)