Eine Frau und ein Kind gehen in Grönland eine Straße entlang.
Die dänisch-grönländische Geschichte ist noch immer nicht ganz aufgearbeitet.
REUTERS/Lucas Jackson

Ihre Mutter habe nicht gewusst, was sie da eigentlich unterschreibt, erzählt Margrete Johansen im Gespräch mit dem dänischen Radiosender P1. Die Frau aus Grönland dachte im Jahr 1951, dass sie ihr gerade einmal sechs Monate altes Baby nur zeitweilig an das dänische Paar abgeben sollte. Die beiden lebten zu der Zeit auf der Insel und wünschten sich ein Kind. "Wenn damals ein Däne etwas wollte, dann geschah das auch", beschreibt Johansen die Zeit. In der postkolonialen Epoche wollte das Königreich die Insel Grönland besser ausbauen, die Infrastruktur aufbessern und die indigene Bevölkerung zu Dänen machen – wobei sie zu Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse verkamen, ihre Menschenrechte nicht immer geachtet wurden.

Margretes Mutter hatte nicht verstanden, dass sie ihre Tochter mit ihrer Unterschrift – die laut Johansen unter Zwang zustande kam – zur Adoption freigegeben hatte. Und zwar für immer. Sie besuchte ihr Kind täglich an der grönländischen Adresse und bat um Erlaubnis, sie zu stillen, bis es dem dänischen Paar zu viel wurde. Die biologische Mutter war lästig geworden, das Paar reiste mit Margrete aufs Festland. Dem Mädchen erzählten sie später, dass ihre Mutter an Tuberkulose gestorben sei, einer nicht unüblichen Todesursache in der Bevölkerung Grönlands. Es dauerte bis 1990, bis Johansen ihre wahre Familiengeschichte erfuhr.

Verlorene Sprache, verlorene Familie

Johansen reiste an ihren Geburtsort in Grönland und lernte noch lebende Familienmitglieder kennen – etwas später auch ihre biologische Mutter, die noch immer ein Babyfoto von Margrete in ihrem Geldbörsel bei sich trug. "Als ich meine Mutter sah, entdeckte ich all unsere Gemeinsamkeiten, und ich verstand, dass ich hierhergehörte", erzählt Johansen dem dänischen Radio. Doch das Tagebuch ihrer Mutter verstand sie nicht – es war auf Grönländisch. Für ihre Mutter war Johansens Verlust der Sprache das größte Verbrechen, das ihr angetan wurde.

Eine Million Kronen gefordert

Johansens Geschichte ist nicht einzigartig. Gemeinsam mit drei weiteren Personen, die als Kinder aus Grönland in den 1950ern bis in die 1970er-Jahre an dänische Eltern abgegeben wurden, fordert sie Entschädigung vom dänischen Staat. Anwalt Mads Pramming vertritt die vier Betroffenen und sieht insgesamt eine Million dänische Kronen (rund 134.000 Euro) als angemessenen Betrag.

Das liegt auch daran, dass der dänische Staat 2022 bereits Entschädigungen an sechs Personen, die in Grönland geboren wurden, ausgezahlt hat – 250.000 dänische Kronen (rund 33.500 Euro) pro Betroffenem. Damals hatte Pramming das Interesse der noch Lebenden vertreten, die in der postkolonialen Zeit als Kinder nach Dänemark gebracht wurden, um die dänische Kultur eingetrichtert zu bekommen.

Umerziehung in Kinderheimen

Die nach Meinung von dänischen Lehrern und Priestern intelligentesten Kinder Grönlands wurden aus ihren Familien genommen, um in Dänemark eine gute Ausbildung zu erhalten. So auch die Geschichte, die 1951 der Mutter von Helene Thiesen erzählt worden war. Zweimal soll sie zu den Beamten der dänischen Krone Nein gesagt haben, doch schlussendlich musste sie nachgeben: Helene wurde zum Kultur- und Sprachunterricht aufs Festland gebracht, lebte bei Gastfamilien und hatte bei ihrer Rückkehr nach Grönland die Sprache vergessen, konnte sich mit ihrer Mutter nicht unterhalten. Und durfte auch nicht bei ihrer Familie wohnen, sondern musste in einem Kinderheim leben, damit ihre dänische Erziehung nicht verwässert wurde.

Nach einem Historikerbericht mit dem Titel "Das historische Unrecht gegen die 22 grönländischen Kinder, die 1951 nach Dänemark geschickt wurden" kam es 2020 zu einer offiziellen Entschuldigung durch Premierministerin Mette Frederiksen.

Recht auf Familie verletzt

Im Entschädigungsfall damals wurden die Betroffenen durch Anwalt Mads Pramming vertreten. Und nun hofft er auch im Fall der Adoptivkinder auf einen Erfolg – und eine Einigung außerhalb der Gerichte. Pramming geht davon aus, dass es hunderte Fälle wie jene von Margrete Johansen und den drei weiteren Betroffenen gibt. Solche Adoptionen seien eine weitverbreitete Praxis und illegal gewesen: "Es ist klar, dass man eine Familie zerstört, wenn man ein Kind ohne die Zustimmung der Eltern aus einer Familie entfernt." Der Staat habe das Menschenrecht auf Familienleben verletzt.

In Dänemark selbst fühlte sich Johansen immer fremd: "Ich habe nie wirklich in das Bild der kleinen, hellhaarigen Mädchen mit blauen Augen gepasst", erinnert sie sich im Gespräch mit dem dänischen Radio. Mit der Entschädigung möchte Johansen näher zu ihrer grönländischen Familie ziehen können. Ihre Mutter ist 2017 gestorben, doch es leben noch weitere Verwandte auf der Insel.

Eine Stellungnahme aus dem Büro der Premierministerin zum Antrag auf Entschädigung ist bis jetzt noch ausgeblieben. (Bianca Blei, 24.6.2024)