Eine Hand zeichnet das Symbol für Pi an eine Tafel
Die Kreiszahl Pi wird in der Mathematik mit dem kleinen griechischen Buchstaben für P dargestellt.
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Die Felder von Mathematik und Physik sind seit ihrem Bestehen durch eine innige Hassliebe verbunden. Die beiden sind ohne einander nicht vorstellbar, doch die Zugänge unterscheiden sich in der Praxis stark. Während in der Mathematik vorsichtig Satz für Satz bewiesen wird, um so zu tiefen Einsichten zu gelangen, ist es in der Physik gängig, in jede nützlich erscheinende Formel einfach einmal Zahlen einzusetzen, um zu sehen, ob etwas Interessantes dabei herauskommt. Menschen aus der Mathematik tun Ähnliches nur selten, und wenn, dann nennen sie diese Vorgangsweise geringschätzig "à la physique".

Die Physik nutzt Mathematik intensiv als Werkzeug, doch immer wieder befruchtet sie umgekehrt die Mathematik mit neuen Methoden. Nun lieferte eine neue Arbeit zur sogenannten Stringtheorie, bei der man sich die kleinsten Bausteine der Materie als winzige, schwingende Fäden vorstellt, einen verblüffenden Beitrag zu einem uralten und sehr grundlegenden mathematischen Problem: der Darstellung der Kreiszahl Pi. Darüber berichtet ein Team des Indian Institute of Science, einer Universität im indischen Bengaluru, nun in einer neuen Studie im Fachjournal Physical Review Letters.

Ein Sechseck ist fast ein Kreis

Bei der Kreiszahl Pi handelt es sich bekanntermaßen um das Verhältnis zwischen dem Umfang eines Kreises und seinem Durchmesser. Dieses Verhältnis lässt sich relativ einfach per Maßband bestimmen, vorausgesetzt, man verfügt über einen perfekten Kreis. Leider ist Letzterer ein Ding der Unmöglichkeit. Es braucht eine rein mathematische Bestimmung von Pi, doch eine solche ist keine ganz einfache Angelegenheit. Pi lebt als irrationale Zahl gewissermaßen in einer anderen Welt als die natürlichen Zahlen und lässt sich in Dezimaldarstellung nie exakt angeben.

Seit der Antike versucht man daher, Pi auf verschiedene Arten einzugrenzen (um nicht zu sagen: einzukreisen). Eine naheliegende Methode besteht darin, den Umfang eines Kreises durch regelmäßige Vielecke mit immer mehr Ecken anzunähern. Nimmt man etwa zwei Sechsecke und zeichnet eines in einen Kreis, eines darum herum, dann muss der Wert für den Umfang des Kreises irgendwo zwischen denen der Umfänge der beiden Sechsecke liegen. Nimmt man statt Sechsecken Achtecke oder andere Vielecke mit immer mehr Ecken, so wird diese Berechnung immer genauer.

Diese Methode geht auf den griechischen Mathematiker Archimedes zurück. Zur Vollkommenheit gebracht wurde sie im alten China. Zu Chongzhi setzte die Berechnung bis zu einem über 12.000-seitigen Vieleck fort. Das genügte für eine Genauigkeit von sieben Dezimalstellen von Pi.

Pi hat in Dezimaldarstellung unendlich viele Nachkommastellen. Hier sind etwas über 4000 Stellen dargestellt, bekannt sind heute etwa 100 Billionen Stellen.
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Andere Methoden

Das Annähern an einen Kreis durch ähnlich aussehende Vielecke ist intuitiv einleuchtend, doch es gibt noch zahlreiche andere Möglichkeiten zur Berechnung von Pi. Die Zahl ist nicht nur wesentlich für Kreise, sondern taucht an unterschiedlichsten Stellen in der Mathematik auf und scheint tief ins Gewebe der Welt eingeschrieben zu sein. Zahlreiche Forschende aus allen Zeiten und Kulturkreisen haben in der Vergangenheit Berechnungsmethoden für Pi angegeben, darunter neben chinesischen auch persische und indische Gelehrte, aber auch Europäer wie der im 13. Jahrhundert lebende Leonardo von Pisa, besser bekannt unter seinem Spitznamen Fibonacci. Weiters zu nennen sind Newton, Leibniz oder später der indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan, der gleich eine ganze Reihe verschiedener Formeln angab.

Diese Formeln haben mit der Methode der Vielecke gemeinsam, dass es sich um Zahlenfolgen handelt, die sich dem echten Wert von Pi immer weiter annähern. In den meisten Fällen handelt es sich um unendliche Summen, die in der Fachsprache Reihen genannt werden: Zu einem Anfangswert werden immer kleinere Zahlen addiert, und obwohl unendlich viele Zahlen zusammengezählt werden, ist die Summe nicht unendlich, sondern eine festgelegte Zahl.

Schnelle Annäherung

Unendliche Summen gehören in den Naturwissenschaften zum ganz normalen Handwerkszeug. Jede naturwissenschaftliche Formel besitzt eine sogenannte Reihenentwicklung. Diese haben den Vorteil, dass sie oft relativ einfache Näherungslösungen für sehr komplexe Formeln liefern. In der Praxis müssen nicht alle unendlich vielen Summanden addiert werden, es genügt, nur so viele zu nehmen, dass das Ergebnis die gewünschte Genauigkeit hat. Das ist bestechend praktisch und hilft nicht nur Computern, sondern auch Gehirnakrobaten, die etwa komplizierte Wurzelberechnungen im Kopf lösen.

Wichtig dafür ist allerdings, dass sich die Folge der Summanden dem realen Wert, der gesucht wird, möglichst schnell annähert. Im Fall der Kreiszahl Pi sind viele der historischen Methoden nicht besonders effektiv. Von den Reihendarstellungen für Pi, die Newton und Leibniz verwendeten, lässt sich zwar mathematisch beweisen, dass sie sich tatsächlich der Kreiszahl immer weiter annähern, doch die Berechnung geht quälend langsam. Einige durch ihre schnelle Annäherung an Pi besonders praktische Reihen gehen auf den legendären indischen Amateurgelehrten Ramanujan zurück, der im frühen 20. Jahrhundert forschte.

Die beiden Forscher Aninda Sinha, links, und Arnab Saha, rechts, präsentieren ihre neue Summenformel für Pi.
Manu Y

Überraschende Entdeckung

Nun fanden der Mathematiker Arnab Saha und der Physiker Aninda Sinha, die am Zentrum für Hochenergiephysik des Indian Institute of Science arbeiten, durch Zufall eine neue Summenformel für Pi. "Unsere Bemühungen drehten sich anfangs nicht darum, uns Pi anzusehen. Wir sahen uns nur Hochenergiephysik an und wollten ein Modell entwickeln, das mit weniger und passenderen Parametern verstehen hilft, wie Teilchen wechselwirken. Wir waren begeistert, als wir einen neuen Blick auf Pi fanden", sagt Sinha.

Eigentlich ging es den beiden darum, die Wechselwirkungen von Teilchen in Beschleunigern wie dem LHC am Kernforschungszentrum Cern bei Genf über das Verhalten winziger Fäden, der für die Stringtheorie namensgebenden "Strings", zu beschreiben. Solche Beschreibungen gibt es bereits, doch die beiden fragten sich, ob sich die verwendeten Formeln noch optimieren ließen oder ob man mit weniger oder anderen Parametern dieselben Ergebnisse erzielen könnte. Dieser Zugang war erfolgreich, was die Hauptaussage der neuen Studie ist.

Doch im Anhang berichten die beiden Forscher von der Entdeckung einer neuen Darstellung für Pi, die entsteht, wenn in eine der gefundenen Formeln für zwei der Parameter -1/2 eingesetzt wird. Erstaunlicherweise handelt es sich um eine allgemeinere Form einer Formel für Pi, die über 600 Jahre alt ist und vermutlich auf den indischen Mathematiker Madhava von Sangamagrama zurückgeht. Madhava hinterließ zwar selbst keine Schriften, wird aber von seinen Schülern häufig zitiert. Bekannt war er vorwiegend als Astronom, weil er Planetenbahnen berechnete und Mondfinsternisse vorhersagte.

Eine mathematische Formel.
So sieht die neue Summenformel für Pi aus. Der Wert für die Variable mit dem griechischen Buchstaben Lambda kann frei gewählt werden. Bei Werten zwischen 10 und 100 nähert sich die Formel schnell Pi an. Bei sehr hohen Werten erhält man die historische Pi-Reihe des indischen Mathematikers Madhava.
Arnab Priya Saha and Aninda Sinha, Creative Commons Attribution 4.0 International license

Für diese Rechnungen benötigte er eine möglichst präzise Abschätzung für Pi. Auch seine Methode nutzte Annäherungen des Kreises durch Vielecke. Das Besondere bei Madhava und seinen Nachfolgern, die der sogenannten Kerala-Schule zugerechnet werden, war allerdings, dass sie sich intensiver mit dem Mysterium auseinandersetzten, wie eine Summe von unendlich vielen Zahlen eine endliche Zahl sein kann.

Madhava lieferte mehrere Darstellungen von Winkelfunktionen als unendliche Summen, die später von Newton und Leibniz neu entdeckt wurden. Einer von ihnen ähnelt die neue Formel der beiden Forscher vom Indian Institute of Science. Während in Madhavas Reihe aber fünf Milliarden Summanden nötig sind, um eine Genauigkeit von zehn Dezimalstellen zu erreichen, ist dieselbe Genauigkeit mithilfe der neuen Formel bereits mit 30 Summanden möglich.

Im Intro des Films "Pi" des US-Regisseurs Darren Aronofsky füllen die Kommastellen von Pi mühelos den gesamten Vorspann. Allerdings trickste der Regisseur: Korrekt sind nur die ersten paar Stellen.
Wayne Lee

Freude an der Theorie

"In der Physik und Mathematik wurde das bisher übersehen, weil die richtigen Werkzeuge fehlten. Wir haben sie erst in der Zusammenarbeit mit unseren Kollegen während der letzten drei Jahre gefunden", erklärt Sinha. In den 1970er-Jahren sei kurz in diese Richtung geforscht worden, dann habe man die Arbeit aufgegeben, weil sie zu kompliziert war.

Die effektivste Summenformel für Pi ist die neue Formel nicht. Eine auf Ramanujan zurückgehende Formel, die auch für die aktuelle Rekordberechnung von 100 Billionen Stellen verwendet wurde, schafft eine Genauigkeit von über zehn Dezimalstellen bereits mit dem ersten Summanden. Doch besonders in der Mathematik lohnt sich traditionellerweise der Blick abseits etablierter Wege, weil niemand sagen kann, wo der nächste überraschende Durchbruch wartet.

Die beiden Forscher sind erfreut über die Möglichkeit einer Anwendung, vorrangige Bedeutung hat das für sie aber nicht: "Diese Arbeit gibt die Befriedigung, Theorie nur um ihrer selbst Willen zu betreiben, selbst wenn es keine Anwendung für das tägliche Leben geben sollte", sagt Sinha. (Reinhard Kleindl, 29.6.2024)