Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) und der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Gespräch.
Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Kanzler Olaf Scholz (SPD) haben einiges zu besprechen.
EPA/HANNIBAL HANSCHKE

An Aufrufen zur Disziplin mangelt es dieser Tage in Berlin nicht. "Den größten Gefallen, den wir den Feinden einer liberalen Demokratie im In- und Ausland tun können, wäre, dass noch eine Demokratie vorzeitig in Neuwahlen geht", warnte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Es wählt ohnehin Frankreich in zwei Durchgängen, am 30. Juni und am 7. Juli. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat die Wahl nach dem Erstarken des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen vom Zaun gebrochen. In Deutschland hingegen will die Ampel bis zum regulären Termin für die Bundestagswahl im Herbst 2025 durchhalten.

Allerdings stehen SPD, Grüne und FDP vor einer großen Hürde. Und diese heißt Haushalt 2025. Bis 3. Juli soll der Entwurf stehen. Doch derzeit dominieren Streit und Drohungen. Klar ist: Die Koalition muss sparen. Es klafft ein Loch von 25 bis 40 Milliarden Euro zwischen Einnahmen und Ausgabewünschen. Manche erklären, sie könnten auf keinen Fall mehr im eigenen Haus den Rotstift ansetzen.

Boris Pistorius etwa, der rote Verteidigungsminister. Er verweist auf den Ukrainekrieg, darauf, dass die Bundeswehr besser ausgestattet werden müsse, dass Deutschland gegenüber der Nato Verpflichtungen zu erfüllen habe. Das sieht zwar Finanzminister Christian Lindner (FDP) auch alles, aber Pistorius' recht selbstbewusstes Auftreten passt ihm nicht.

Ökonomische Realitäten

"Der Kollege Pistorius zeigt leider nur die Option auf, Sicherheit durch Schulden zu schaffen. Den Bürgern werden so immer mehr dauerhafte Zinslasten aufgehalst", klagt Lindner. Doch Pistorius kontert: "Wenn die Schuldenbremse Verfassungsrang hat, dann hat der Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat, sie zu schützen, erst recht Verfassungsrang."

Lindner hat auch Baerbock und Entwicklungshilfe-Ministerin Svenja Schultze (SPD) aufgefordert, ihre Wünsche nochmals zu überdenken. "Die Anmeldungen für den Bundeshaushalt 2025 haben nicht den Eindruck erweckt, dass alle die ökonomischen Realitäten erkannt haben", kritisiert er und betont: "Deshalb musste ich mich beim Bundeskanzler und dem Wirtschaftsminister erst vergewissern, ob wir noch auf einer Linie sind."

Mit einem einfachen Ja lässt sich die Frage aber nicht beantworten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) verweigert nämlich Kürzungen im Sozialbereich, mit denen wiederum Lindner kein Problem hätte. Der Finanzminister denkt an das Bürgergeld, die deutsche Grundsicherung für Arbeitssuchende. Der Kanzler aber sagt: "Wir werden den Sozialstaat verteidigen, und wir werden ihn auch entwickeln."

Andererseits springt Scholz Lindner beim Sparen zur Seite und sagt: "Wir müssen mit dem Geld auskommen, das wir haben. Daran führt nun mal kein Weg vorbei." Das gefällt Lindner, der die Schuldenbremse strikt einhalten will. "Es ist ein Gebot der Verfassung. Man kann nicht Gebote der Verfassung aus- und einschalten wie einen Lichtschalter", meint er. Bei Scholz klingt es ähnlich: "Ganz ohne Regeln sollten wir nicht durch die Gegend marschieren."

Ausnahmeregelung wird gefordert

Die Schuldenbremse ist im Grundgesetz verankert und besagt, dass der Bund in einem Jahr nur neue Kredite in Höhe von 0,35 Prozent des BIP aufnehmen darf. Beschlossen wurde die Schuldenbremse in Deutschland im Jahr 2009, in Kraft trat sie 2016. So wollte man verhindern, dass die kommenden Generationen immer mehr Schulden und Zinsen zurückzahlen müssen. In Fall von Notlagen (etwa Corona) oder Naturkatastrophen (Flut) kann sie gerissen werden.

Darauf spekulieren die Grünen und auch die SPD. "Welch größere Notlage sollte es geben als diesen Krieg mitten in Europa? Es wäre fatal, in ein paar Jahren sagen zu müssen: Wir haben die Schuldenbremse gerettet, aber dafür die Ukraine und die europäische Friedensordnung verloren", sagt Baerbock.

SPD-Chefin Saskia Esken spricht von der Schuldenbremse als "Zukunftsbremse, die unseren Wohlstand gefährdet". Druck bekommt Scholz auch aus der SPD-Fraktion. "Das Dogma der schwarzen Null bedeutet Stillstand und wirtschaftliche Unvernunft", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung des konservativen Seeheimer Kreises, des Netzwerks Berlin und der Parlamentarischen Linken. Somit fordern alle Flügel der Fraktion: "Angesichts der außergewöhnlichen Notsituationen in der Ukraine und den deutschen Flutgebieten sollten wir auch in diesem Jahr die Ausnahmeregelung der Schuldenbremse nutzen."

FDP-Abgeordnete warnen

Auf der anderen Seite steht die FDP-Fraktion. Dreißig junge der insgesamt 91 Abgeordneten drohen nun mit dem Verlassen der Koalition, sollte Lindner nicht hart bleiben. Parteivize Wolfgang Kubicki legt gegenüber dem Focus noch einen drauf und sagt: "Ich gehe eher davon aus, dass nicht nur 30 Abgeordnete der FDP-Fraktion absolut zur Schuldenbremse stehen, sondern alle 91."

Ökonomen fordern hingegen eine Reform der Schuldenbremse. Der Internationale Währungsfonds etwa schlägt vor, dem Bund eine Neuverschuldung von einem Prozent statt nur 0,35 Prozent des BIP zu erlauben, dann hätte die Ampel mehr Spielraum.

Im Handelsblatt sagte IWF-Chefvolkswirt Pierre-Olivier Gourinchas: "Deutschland zahlt den Preis für seine sehr harte Schuldenbremse." Die Gefahr einer Überschuldung sieht er nicht: "Der deutsche Schuldenstand ist völlig unter Kontrolle." In Richtung Ein-Prozent-Grenze gehen auch Überlegungen der deutschen Wirtschaftsweisen, die die Bundesregierung beraten.

Sie schlagen Anpassungen an drei Stellen vor: eine Übergangsphase nach einer Notlage einführen, Defizitgrenzen bei niedrigen Schuldenstandsquoten erhöhen und die Konjunkturbereinigung methodisch weniger revisionsanfällig gestalten. "Eine solche Anpassung der Schuldenbremse erhöht die Flexibilität der Fiskalpolitik, ohne die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen zu gefährden", meinen sie.

Scholz kann sich eine Reform auch vorstellen, aber nicht jetzt, sondern eher in "ruhigeren Zeiten". Allerdings bleiben zwei Fragen offen: wann die ruhigeren Zeiten kommen sollen und wie die nötige Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat zustande kommen soll. Dafür bräuchte es die Union, und diese ist nicht einhellig von einer Reform überzeugt. (Birgit Baumann aus Berlin, 24.6.2024)