Wut Demokratie kindlicher Trotz
Aus dem guten, alten Wutbürgertum ist eine Gesellschaft der "Trotzdemokraten" hervorgegangen: Was tun mit all den vorsätzlich Frustrierten? Auch die Sozialphilosophen rätseln noch.
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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat einen besonders sprachmächtigen Philosophen zum Freund gewonnen. Peter Sloterdijk, der begnadete Fremdwortschmied, hielt dieser Tage eine Vorlesungsreihe am Pariser Collège de France. Macron hatte eigentlich sein Erscheinen zugesagt. Gekommen ist es lediglich zum bilateralen Austausch: Im Tête-à-Tête von Macht und Geist wussten sich die beiden rasch einig in ihrem Vernichtungsurteil über Olaf Scholz. Der sei zu zögerlich.

Alles Übrige erzählte Sloterdijk jetzt der Zeit: Wir westliche Europäer lebten immer noch in einer Art Traumzeit. Die Bürger hätten endlich, endlich ihre "postimperialen Hausaufgaben" zu machen. Das Unbehagen der vielen Rechtswähler kann Sloterdijk (76) hingegen verstehen. Mit Konfliktscheu und Wohlstandsverwaltung allein sei es nicht mehr getan. Wir lebten in einer "Trotzdemokratie". Trotz werde medial belohnt. Beleidigte aller Länder schwängen sich auf ihre Traktoren – und machten den Zaudernden an den Regierungsspitzen die Hölle heiß.

Die "Rache der Landbewohner" an den städtischen Eliten markiert den Endpunkt dieser Entwicklung des Trotzes. Viele Mitteleuropäer sprechen sich inzwischen für rechtspopulistische Parteien aus. Das alte Misstrauen gegen "die da oben" ist einer Wut gewichen, die man meint mit Händen greifen zu können.

Ankunftsbeschwerden

Es scheint, als ob die Ankunft in der "Spätmoderne" (Andreas Reckwitz) bei vielen nichts als Frust weckt. Wohin bloß ist die Zeit verschwunden, als die Bahn pünktlich, die Sparbuchzinsen solide waren? Seltsam genug: Wutbürger unterschiedlichster Gesinnung weinen Verlusten hinterher, die sie noch gar nicht erlitten haben. Der Sozialphilosoph Reckwitz beschrieb das Phänomen als die besorgte Vorwegnahme zukünftiger Verluste. Die Defizitrechnung der Trutzbürger ist im Futurum exaktum kalkuliert: "Wir werden verloren haben …"

Technisch gesprochen ist der Schmollmund der aktuelle Ausdruck unserer Sozialphysiognomie. Einfacher gesagt: Kindlicher Trotz lenkt in tausend Dingen das Verhalten. Im Dafürhalten vieler Wahlbürgerinnen und Wahlbürger ersetzen Wut und Schmollen das Argument: die vorurteilsfreie Analyse, das wohlerwogene Wort. Die Unzufriedenheit wächst. Dabei ist es niemals vorher so vielen Menschen so gut gegangen.

Mit helvetischer List erinnerte der Historiker Valentin Groebner unlängst an die Wiederkehr des immer Gleichen. Bereits 1979 habe Jürgen Habermas "Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit'" zusammentragen lassen. Auf 860-Suhrkamp-Seiten wurden damals nicht weniger als 34 Zeitdiagnosen versammelt. Das Ergebnis glich heutigen Frustbefunden aufs Haar.

Neues Ungemach

Vorhergesagt wurden "ökologische Verbrechen größten Ausmaßes". Iring Fetscher schrieb: "Gerade die jüngere Generation zeigt ein wachsendes Bedürfnis nach nationaler Identität." Habermas selbst blieb die Zusammenfassung nicht schuldig: "Die Zukunft ist negativ besetzt; als Schreckenspanorama der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen."

Jetzt, 45 Jahre später, droht neuerliches Ungemach, es sieht dem alten zum Verwechseln ähnlich. Die Stichwörter lauten: Verlust von Job und Kaufkraft, Einschränkungen durch den Staat, Misstrauen gegenüber seinem Management. Es scheint, als ob alle Zumutungen, die den Menschen aufgebürdet werden, umfassendes Heimweh hervorgerufen hätten.

Früher sei eben alles besser gewesen. Uns Menschen der Spätmoderne treiben unklare Sehnsüchte an. Eine "Zeit der Verluste" (Daniel Schreiber) stimmt nostalgisch. Der Ort der Verklärung wird in der Rückschau zum Hort der Illusion: vergessen die Härten vergangener Epochen.

"Retropie" nennt sich die Formel für die populistischen Forderungen. Sie verheißt einer Generation von Trotzbinkerln allerlei Linderung und Wiedergutmachung. Heimkehrwünsche bestimmen nicht allein die Betriebstemperatur neuer, alter Rechter. Angestrebt wird eine umfassende Rückkehr: eine Flucht in die Zustände vor der Gentrifizierung und der Kolonialisierung. Letzteres Anliegen bewegt die Gemüter progressiver Linker am heftigsten.

Gutes Geschäft

Die rechten Populisten haben es leichter. Sie schreiben Wutbürgern folgendes Zukunftsversprechen ins Stammbuch: Wir stellen die Vergangenheit mit vereinten Kräften wieder her. Sie soll sich selbst ähnlichsehen, jedoch in der optimierten Version ihrer selbst.

Angesteuert wird von ihnen ein Punkt, der räumlich wie zeitlich hinter jeder Vergangenheit liegt. Alles wäre so schön geblieben, wie es immer war – wenn es nur diese dumme Gleichstellung der Geschlechter nicht gegeben hätte. Harmonie herrschte ohne Industrialisierung – und ohne die lästige Einwanderung.

Sloterdijk, der Berater Macrons, verlangt ausgerechnet jetzt, in einer Phase überschäumender Wut, von den Wahlvölkern mehr Mündigkeit. Demokratinnen und Demokraten sollten endlich wieder Zutrauen zu ihren Eliten fassen. Die Verratshypothese habe sich für die Problembewältigung als untauglich bewiesen.

In den aktuellen Auseinandersetzungen erkennt der Denker vornehmlich die Auswirkung des Stadt-Land-Gefälles. Sein Vorschlag zur Güte wäre keines Philosophen, auch keines Präsidenten im Élysée-Palast, sondern eines Königs Salomo würdig: Sloterdijk empfiehlt die Gründung von Traktorenverleihfirmen für Protestgruppen. "Mieten Sie 500 Traktoren und verleihen Sie die an nicht sehr protestfähige Gruppen, etwa die Krankenpfleger."

Es wäre doch gelacht, wenn sich in unserer Spätmoderne aus Trotz nicht ein prima Geschäft machen ließe. (Ronald Pohl, 24.6.2024)