Hat Baumgartner zunächst nicht seine Bestform abrufen können, so sorgten eine Systemumstellung und ein Vier-Augen-Gespräch für einen Umschwung.
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Berlin – Die Erleichterung stand Österreichs Fußball-Teamchef Ralf Rangnick nach dem 3:1 am Freitag in Berlin gegen Polen ins Gesicht geschrieben. Im zweiten EM-Spiel wurde seine Truppe den Erwartungen gerecht, als Lohn winkt der Einzug ins Achtelfinale. Selbst eine knappe Niederlage im abschließenden Gruppenspiel am Dienstag gegen die Niederlande (18 Uhr/live ServusTV) könnte reichen, doch Rangnick warnte: "Rechnerisch sind wir noch nicht durch. Mindestens einen Punkt werden wir schon noch brauchen."

Trotz aller Vorsicht könnte der Sieg im "Play-off-Spiel", wie Rangnick das Duell mit den Polen bezeichnete, schon den Sprung in die K.o.-Phase bedeuten, weil vier der sechs besten Gruppendritten aufsteigen. "Seit ich Teamchef bin, war das mit Sicherheit das wichtigste Spiel. Deshalb sind wir alle sehr glücklich über den Sieg und über weite Strecken auch über die Leistung", erklärte Rangnick.

Die ÖFB-Auswahl begann stark, fiel dann zurück und fixierte schließlich die drei Punkte dank einer Steigerung nach der Pause. "Die ersten 20 Minuten waren nahezu perfekt, da hätten wir höher führen müssen. Danach haben wir das Spiel ein bisschen selbst weggegeben und sind sorglos mit dem eigenen Ballbesitz umgegangen. In der zweiten Hälfte hatten wir das Match dann eindeutig unter Kontrolle", resümierte der Deutsche. Unter seiner Führung blieb die ÖFB-Auswahl neun Mal in Folge nach dem Seitenwechsel ohne Gegentor – dies war zuletzt von 1973 bis 1975 geglückt.

"Vier oder fünf Spieler unter ihrer Normalform"

Den Rückfall im zweiten Abschnitt der ersten Hälfte bezeichnete Rangnick als "Kopfsache". Schon zuvor seien einige seiner Schützlinge unter ihrem Leistungsvermögen gewesen. "Wir hatten am Anfang ein großes Leistungsgefälle. Vier, fünf Spieler waren überragend, andere haben underperformt. Wir können es uns aber nicht erlauben, dass vier oder fünf Spieler unter ihrer Normalform bleiben", betonte der 65-Jährige. "Doch nach dem Seitenwechsel war alles anders."

Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel erklärte Rangnick zunächst, er wolle keinen seiner Kicker hervorheben, "weil wir vom Teamgeist leben". Wenig später gab es dann doch Sonderlob. Explizit erwähnt wurden Nicolas Seiwald (Rangnick: "Das war für mich sein bestes Spiel, seit ich Teamchef bin"), 2:1-Assistgeber Alexander Prass, Elfmeterschütze Marko Arnautovic, Philipp Lienhart ("Grandioser Auftritt") und der mit einer Muskelverletzung ausgeschiedene Torschütze Gernot Trauner ("Ich hoffe, es geht sich bis Dienstag aus"). Am Samstagabend hieß es, dass Trauner keine grobe Verletzung davongetragen habe. Der 32-Jährige laboriert aber an einem muskulären Problem im Oberschenkel, bestätigte ein ÖFB-Sprecher nach einer MR-Untersuchung. Ob der Legionär von Feyenoord Rotterdam im abschließenden Gruppenspiel spielen kann, ist fraglich.

Lienhart und Trauner bildeten gegen Polen die neue Innenverteidigung, die beim 0:1 gegen Frankreich eingesetzten Kevin Danso und Maximilian Wöber rutschten aus der Startformation. "Es war für mich keine einfache Entscheidung, aber ich bin froh, dass ich mich für die beiden entschieden habe", sagte Rangnick.

Bitter wäre, wenn Trauner ausgerechnet gegen seine Wahlheimat Niederlande passen müsste. "Wir schauen, dass wir das so schnell wie möglich wieder hinbekommen", sagte er. Am Samstag standen Untersuchungen und Therapien auf dem Programm. Und es blieb Zeit zur Reflexion. "Es war ein sehr, sehr wichtiges Tor. Das wird mir immer in Erinnerung bleiben", sagte der Innenverteidiger. Bisher hatte er im Nationalteam nur in einem vergleichsweise bedeutungslosen Test im November 2020 gegen Luxemburg (3:0) getroffen. Nun jubelte er vor den Augen seiner gesamten Familie. "Es macht mich überglücklich, dass sie dabei waren und das mit mir teilen können auf ewig."

Bei Feyenoord hatte der dreifache Vater im Saisonverlauf mit Oberschenkel-, Rücken- und Knieproblemen zu kämpfen. "Ich habe kein leichtes Jahr hinter mir. Ich habe richtig hart gearbeitet", schilderte der Feyenoord-Kapitän, der mit 32 Jahren seine erste EM bestreitet. "Ich bin froh, dass ich jetzt da bin. Dass ich es dann mit einem Tor krönen kann, ist überragend. Wegen der Verletzung sind es aber ein bisschen gemischte Gefühle."

Baumgartners Metamorphose

Keine Sorgen hat aktuell Christoph Baumgartner. Der Mann des Spiels erzielte das vorentscheidende 2:1 und sprintete daraufhin direkt zu Rangnick und umarmte ihn – als Dank dafür, dass ihn der Teamchef noch einmal extra motiviert hatte. Beim 0:1 gegen Frankreich hatte der Niederösterreicher noch einen Sitzer ausgelassen, nun strahlte er im Berliner Olympiastadion mit der "Man of the Match"-Trophäe.

Baumgartner hat wieder einmal geliefert.
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Die vergebene Chance gegen die Franzosen war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. "Du schießt in fünf Länderspielen immer ein Tor, und dann in dem, das wirklich zählt, keines. Da hinterfrage ich mich auch, warum der nicht drin ist", gestand der Leipzig-Profi.

Seine Selbstzweifel wurden von Rangnick beiseite gewischt. Der Deutsche schickte Baumgartner noch auf der Fahrt ins Stadion ein Foto aufs Smartphone, auf dem der 24-Jährige im Leipzig-Trikot in Jubelpose zu sehen war. "Aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war, wenn ich mir die erste Hälfte anschaue", scherzte Rangnick.

Vier-Augen-Gespräch

Vor der Pause fand Baumgartner überhaupt nicht in die Partie, kam auf dem rechten Flügel offensiv kaum zur Geltung und leistete sich unerklärliche Fehler. Danach bat Rangnick seinen Schützling in der Kabine zum Vier-Augen-Gespräch: "Ich habe ihm gesagt: 'Du bist so ein wichtiger Spieler, wir brauchen dich mindestens in Normalform.'" Der Teamchef habe sich Zeit für ihn genommen und ihm Mut zugesprochen: "Er hat mir klar gemacht, dass er mir vertraut und dass er weiß, dass ich in solchen Spielen den Unterschied machen kann. Wir haben ein gutes Verhältnis und ich bin extrem froh, dass er noch bei uns ist", erzählte Baumgartner.

Baumgartners Steigerung nach dem Seitenwechsel war aber wohl nicht ausschließlich auf die Unterredung mit Rangnick zurückzuführen. "Die Umstellung von außen ins Zentrum hat ihm sicher gutgetan", sagte Rangnick.

Von seinen Spielern fiel durch den insgesamt dritten EM-Sieg in der ÖFB-Historie große Last ab. "Wir sind alle brutal erleichtert, es war schon gehöriger Druck auf uns. Das Mittagsschlaferl war sehr kurz, viel ist nicht gegangen", berichtete Baumgartner. Nun aber hat man Appetit auf mehr. "Jetzt geht's erst richtig los", kündigte der 40-fache Internationale (16 Tore) an. "Wir haben noch einiges zu tun, aber der Sieg war wichtig für den Kopf."

Durch das 3:1 ist nicht nur die Achtelfinal-Teilnahme nah – das ÖFB-Team wurde auch seinen Vorschusslorbeeren gerecht, schließlich war man in internationalen Medien des Öfteren als Geheimfavorit bezeichnet worden. "Das ist eine Auszeichnung. Wir haben sehr gute Nationen geschlagen und hatten in den letzten Monaten einen Riesenlauf, dann wird schnell in großen Sphären gedacht. Aber wir als Mannschaft konnten das immer gut einschätzen", versicherte Baumgartner.

Glückstag

Der 21. Juni sollte sich wieder einmal als Glückstag für die österreichische Nationalmannschaft erweisen. 1978 gelang an diesem Tag das "Wunder von Cordoba", 1982 der WM-Sieg über Algerien und 2021 bei der EM das 1:0 gegen die Ukraine. Durch den Erfolg vor drei Jahren zog das ÖFB-Männer-Team erstmals in der Geschichte in ein EURO-Achtelfinale ein – genau das soll auch am Dienstag gelingen. (APA, red, 22.6.2024)