Eine Krimireihe hat ihn weit über die Grenzen Russlands hinaus bekannt gemacht, er selbst hat sich nie gescheut, die russische Führung zu kritisieren. Am Donnerstag sprach Grigori Tschchartischwili, besser bekannt unter dem Pseudonym Boris Akunin, im Bruno-Kreisky-Forum in Wien. Dort zeichnete der in Russland als "Terrorist" gesuchte Bestsellerautor ein düsteres Bild von der politischen Situation unter Wladimir Putin. Auch wenn er noch Hoffnung für die Zukunft Russlands hege, sei er nicht optimistisch, was ein schnelles Ende der jetzigen Führung angehe.

Der Schriftsteller Grigori Tschchartischwili, besser bekannt als Boris Akunin, stützt sein Kinn auf die rechte Hand.
Boris Akunin (bürgerlich Grigori Tschchartischwili) auf einem Archivfoto bei einer Buchpräsentation in Moskau im Jänner 2011.
AP/Alexander Zemlianichenko

Denn ein demokratischer Wandel müsse von der Bevölkerung ausgehen, neben einer "starken Hand" könne nur der Wille der Bevölkerung das Land zusammenhalten. Dies setze aber eine echte Konföderation autonomer Regionen, eine "Demoskauisierung", voraus. Andernfalls würde das große Land auch demokratische Eliten unweigerlich zu Autokraten machen, wie es bei Boris Jelzin der Fall gewesen sei.

Bevölkerung "nicht verzweifelt genug" für Proteste

Allerdings verunmögliche die enorme Repression in Russland derzeit eine Umwälzung von innen, meinte Akunin. So habe er kürzlich Menschen in Russland gefragt, wann sie bereit seien, auf die Straße zu gehen. Die Antwort sei mehrheitlich gewesen: wenn die anderen es auch täten. Denn eine Revolution würde zweifelsohne mit großer Brutalität beantwortet werden – und dafür sei die russische Bevölkerung noch nicht "verzweifelt genug", so Akunin. Immerhin scheine die wirtschaftliche Situation noch vergleichsweise akzeptabel.

Eine Handvoll Männer geht mit Koffern eine Straße entlang, im Hintergrund stehen Lastwagen.
Akunin kritisiert, dass Russen, die aus ihrer Heimat geflohen seien (hier an der Grenze zu Georgien im September 2022), nicht mit offenen Armen empfangen worden seien.
EPA/ZURAB KURTSIKIDZE

Kritisch äußerte sich Akunin über den Westen, der seit der russischen Großoffensive im Jahr 2022 bei der Unterstützung der demokratischen Kräfte in Russland versagt habe. So seien hunderttausende Russen, die aus ihrem Land geflohen seien, um nicht in Putins Krieg hineingezogen zu werden, nicht willkommengeheißen worden. Die mangelnde Unterstützung habe viele gezwungen, nach Russland zurückzukehren, als ihre finanziellen Ressourcen erschöpft waren. Auch die Absage von kulturellen Veranstaltungen mit Russland-Bezug habe es Putin ermöglicht zu behaupten, der Westen hasse nicht nur ihn, sondern alle Menschen in Russland.

Ähnlich falsch sei der Umgang des Westens mit den russischen Oligarchen gewesen, die Akunin als "Feiglinge" titulierte, weil sie sich nicht gegen den Krieg ausgesprochen hätten. Wären sie dem einsamen Protest des Oligarchen Oleg Tinkow gefolgt, hätte dies ein wichtiges Signal gesandt. Der Westen habe es versäumt, die Oligarchen zu ermutigen, sich mitsamt ihren Milliarden von der russischen Führung zu distanzieren. Das habe sie in die Hände des Kreml getrieben.

Herrschaftssystem "weder unlogisch noch absurd"

Darüber, wie dessen Herrschaftssystem funktioniere, sagte Akunin, das System erscheine für Außenstehende "unlogisch und absurd". Doch weder das eine noch das andere sei zutreffend, folge das System doch einer gewissen Logik der "Machtvertikale". So seien beispielsweise die neuen Propagandageschichtsbücher nicht produziert worden, um von Jugendlichen gelesen zu werden – denn diese würden das Geschriebene ohnehin nicht glauben. Stattdessen hätten die Bücher zwei Ziele gehabt: die Produzenten reich zu machen und von Wladimir Putin mit Genugtuung gelesen zu werden, meinte der Schriftsteller.

In der russischen Führung gebe es eine Dynamik, bei der die intellektuell weniger fähigen Kader im mächtigen Block der Silowiki, dem Militär und dem Geheimdienst, angesiedelt seien. Die intelligenteren Kader würden im weniger einflussreichen Wirtschaftsblock gesammelt, um sie nicht zu gefährlich werden zu lassen. Dass mit Andrei Belousow nun ein Ökonom an der Spitze des für das Militär zuständigen Ministeriums stehe, könne ein gewisses Risiko darstellen, so Akunin.

Nawalny als "Idol für Junge"

Auf den toten Kreml-Kritiker Alexei Nawalny angesprochen, sagte Akunin, dieser sei mutiger gewesen als er selbst. Bei den Bolotnaja-Protesten gegen die Wahlfälschungen in Russland 2011/2012 habe er gehandelt, während Akunin nur geredet habe. Wegen seines Heldenmutes sähen viele junge Menschen Nawalny heute als Idol. Und: Da Nawalny getötet worden sei, könne ihm der Kreml nichts mehr anhaben.

Eine Gruppe von Menschen hat sich um ein mit Blumen und Ballons geschmücktes Grab versammelt.
Menschen versammeln sich am 4. Juni an Alexei Nawalnys Grab auf dem Borissowskoje-Friedhof in Moskau, um anlässlich seines Geburtstags seiner zu gedenken. Nawalny wäre an diesem Tag 48 Jahre alt geworden.
AFP/NATALIA KOLESNIKOVA

Dass die Bolotnaja-Proteste so spät stattfanden, habe daran gelegen, dass die Generation Akunin, die in der Sowjetunion aufgewachsen sei, sich vom Kollektiv habe abgrenzen wollen und sich deshalb erst spät organisiert habe. Das sei fatal gewesen, da dadurch eine günstige Gelegenheit verpasst worden sei. Dennoch sei eine demokratische Zukunft nicht unmöglich, da die Menschen anpassungsfähig seien.

Auf die Frage, was er darüber denke, dass ihm in Russland ein Verfahren wegen angeblicher Unterstützung des Terrorismus drohe, sagte Akunin, er sei daran "nicht interessiert". Schließlich gebe es keine richtigen Gerichte mehr, Meinungsfreiheit gebe es nur noch beim "letzten Wort", dem Schlussplädoyer von Angeklagten. (now, 21.6.2024)